Ihre Sucht war ein offenes Geheimnis, ihre Lügen so transparent wie glasklare Scheiben. Was sie lässig wegzuwischen versuchte, den torkelnden Gang, die undeutliche Sprache, die Vergesslichkeit und vor  allem das Zittern vor dem ersten Schluck, ließ sich nicht beiseite schieben. Trotzdem beharrte sie darauf, dass es nicht eine Sucht wäre, sondern nur eine Suche.

Auf der Suche nach der Erfüllung eines Lebens, das sie täglich selbst neu zerstörte, taumelte sie doch meist nur rückwärts. Eine erträgliche Zukunft gab es nicht, deshalb musste die Gegenwart betäubt werden. Ich trinke, also bin ich.

Stolpern, wieder aufstehen, weiter stolpern, nur nicht jammern, auch wenn es manchmal blutende Wunden hinterließ. Die Hilfsbereitschaft fremder Menschen auf der Straße verwunderte sie, denn ihr Glaube an das Gute im Menschen war in der Kindheit aus ihr herausgeprügelt worden. Strenge Erziehung nannte man das.

Sie starrte auf das Regenbogen pupsende Einhorn auf dem Plakat an der Wand gegenüber. Was musste man fressen, um bunte Regenbogen zu pupsen? Ihre Gedanken kreisten schmerzend um das Fabeltier, einem lauernden Rudel Löwen gleich. Eingesperrt – Beute und Jäger – in einem gläsernen Käfig ausnüchternder Promille.

Die Infusion tropfte viel zu langsam, um das Pochen im Kopf schnell verstummen zu lassen. „Notfallambu“ stand auf dem roten Armband, welches ihr Handgelenk zierte. Heute hatte sie sich also bis in die Notaufnahme gesoffen. War es dieses grelle Zimmer voller grauer Plastiksessel, unpersönlicher Spitalsbetten mit stöhnenden, sich übergebender Fremden, das sie hatte finden wollen? Nein, sie war sich sicher, dass sie ihr Leben in den Griff bekommen würde, sobald sie das Geheimnis des Einhorns gelöst hatte.

2018 51+52 | 365tageasatzaday

 

Noch ein Beitrag zu den aktuellen 3 Worten (Regenbogen – transparent – bluten) für die abc-Etüden von Christiane. Die Wortspende kommt diesmal von dergl (Die Tintenkleckse sehen aus wie Vögel).