Christianes abc-Etüden sind diesmal um drei seltsam aufeinander wirkende Worte zu schmieden, die Elke H. Speidel (transsilabia.wordpress.com) vorgab:
Ahornblatt
Chinareise
krabbeln
Das Seltsame daran ist, wohin es mich führte: Nach China, dem Reich der Mitte? Ja, klar, aber auch mitten ins Reich längst vergessener Worte. Ach brächte ich sie doch nur wieder zusammen, wie sie klangen.
„Tolles Foto!“ sagt er und nimmt ein Bild herbstlich flammender Bäume vorsichtig aus dem alten Album, um die spitzen Ahornblätter besser betrachten zu können.
„Wo war das?“
Sie hebt das Baby über ihren Kopf, lacht es an, gibt ihm einen Kuss auf den Bauch und setzt es behutsam auf den Boden, wo es sofort glucksend zu krabbeln beginnt.
Mutter und Sohn schauen dem kleinen Mädchen zu, bis es sich auf den Spielteppich ins Schütteln einer Rassel vertieft.
Dann steht die alte Frau auf, geht zum Tisch am Fenster und schaut mit zusammengekniffenen Augen angestrengt über die Schulter des jungen Mannes, die Stirn in Falten, vor Ärger über das schlechter werdende Augenlicht sich die Lippen fast blutig beißend: „Das war auf unserer Chinareise, 19…“
Sie stockt, ihr Blick schweift in die Ferne- bei klarem Wetter sieht man bis zum Wald nördlich der Stadt, der jetzt nur ein dichtgedrängter Haufen schwarzer Gerippe ist, da der Novemberwind die Bäume bereits von ihren welken Blättern befreit hat – aber die Jahreszahl will ihr nicht einfallen.
Er wartet kurz schweigend ab, doch da sie nicht weiterspricht, fährt er schließlich fort: „Ich wusste gar nicht, dass es in China Ahornbäume gibt?“
„Ja doch, diese Art wird nach seiner Herkunft Sichuan-Ahorn genannt und ist schon recht selten“ erklärt sie aus dem Stehgreif, so wie sie all ihr lexikalisches Wissen noch immer problemlos abrufen kann, nur die eigenen Erlebnisse, die verblassen immer mehr.
Sich an seine Schulzeit erinnernd reimt er gedankenverloren vor sich hin, während er die Bäume auf dem alten Foto betrachtet:
„Der gute Baum von Sezuan, ach brächt er uns doch nur den Schluss, den guten, der da sein muss,
muss,
muss!*“
frei nach dem Epilog von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“:
„Den Vorhang zu und alle Fragen offen […] Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! / Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss“
Ach ja, die Gemeinsamkeit: Parabel und Baum haben Äste
Danke für die Brücke zum Ahorn! Ich suche auch noch … 😉
Liebe Grüße
Christiane
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