Nachdem ich vor Kurzem über die Geschichte „The Curious Incident of the Dog in the Night-Time“ schrieb, in dem ein fiktionaler autistischer Bub eine besondere Episode aus seinem Leben erzählt und dabei Einblicke in seine Welt gibt, hat mich der Kommentar einer Leserin an ein weiteres Buch erinnert, welches ich vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt bekam:
„The Reason I Jump“
von Naoki Higashida (ins Englische übersetzt von KA Yoshida und David Mitchell), das auf Deutsch unter dem Titel „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann: Ein autistischer Junge erklärt seine Welt“ erschienen ist.
Das Buch ist aufrüttelnd und rückt viele falsche Vorstellungen darüber, wie Autisten „ticken“ zurecht. Es stimmt zum Teil sehr traurig, überrascht in seiner Klarheit und ist wirklich lesenswert.
Ein Bub hüpft scheinbar grundlos und klatscht in die Hände. Gefangen in einem Körper, der ihm nicht gehorchen will, eingeschränkt in vielen Bereichen durch Menschen, die ihn nicht verstehen, möchte er die Arme wie Flügel ausbreiten und sich in die Lüft erheben.
Naoki, ein japanischer Junge, geboren 1992, war 13 Jahre alt, als er das Buch schrieb. Sein Autismus ist so schwerwiegend, dass eine mündliche Kommunikation mit anderen Menschen im wesentlichen unmöglich ist. Dank eines sehr engagierten Lehrers und seinem Willen, mit der Welt besser in Kontakt treten zu können, gelang es ihm durch hartnäckiges Üben mittels einer Buchstabentafel ganze Wörter und schließlich auch Sätze zu buchstabieren. Dieser Jugendliche hat ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, als Autist unter Nicht-Autisten zu leben. Er versucht zu erklären, warum Autisten bestimmte Dinge tun oder nicht tun (können).
Ein reger Geist in einem ferngesteuerten Roboter
Das Buch besteht aus 58 Fragen, die Naoki mit wenigen Worten, aber einprägsam und anschaulich beantwortet, und ein paar kleinen Geschichten.
Die Fragen oder Ausgangssätze für die einzelnen, wirklich kurz gehaltenen Kapitel erscheinen als wären sie von einem Interviewpartner gestellt worden: „How are you writing these sentences?“, „Is it true that you hate being touched“ etc. Sie werden meist auf maximal 2 Seiten von Naoki erörtert. Das Buch könnte also fast wie ein Ratgeber verwendet werden. Leider fehlt ein Inhaltsverzeichnis (zumindest in der englischsprachigen Ausgabe).
In der Einleitung berichtet David Mitchell, der Übersetzer (Japanisch → Engisch), wie das Buch ihm und seiner Familie half, erstmals eine konkrete Vorstellung davon zu bekommen, was in ihrem eigenen autistischen Sohn vor sich geht. Durch eine erste private Übersetzung ins Englische wollten sie das Buch in erster Linie Menschen, die mit ihrem Sohn zu tun haben, zugänglich machen. Sie erkannten bald, dass sich viele Eltern ein derartiges Buch wünschten, um anderen zu helfen, das autistisches Verhalten ihrer Kinder besser zu verstehen. So kam es, dass „The Reason I Jump“ 2013 auf Englisch erschien.
Das Vorwort stammt von Naoki selbst:
„You can’t judge a person by their looks. But once you know the other person’s inner self, both of you can be that much closer. From your point of view, the world of autism must look like a deeply mysterious place. So please, spare a little time to listen to what I have to say. And have a nice trip through our world“
Ungewollt isoliert
Die erschreckendste Erkenntnis, die man vermutlich gewinnt, ist die nicht selbst gewählte Isolation, in die Autisten geraten.
Naoki beschreibt, dass er darunter leidet, dass sein Verhalten Aufsehen erregt, zu Kontaktabbrüchen führt oder andere Menschen verärgert, z.B. weil er wiederholt dieselben Fragen stellt, einfache Abläufe nicht ohne explizite Anweisungen für jeden Arbeitsschritt durchführen kann, nicht bemerkt, wenn er von anderen angesprochen wird u.v.m.
Er schreibt explizit davon, dass er gerne mit anderen Menschen zusammen wäre, jedoch von vielen gemieden wird, weil sie sein Verhalten als Ablehnung und Wunsch nach Einsamkeit mißinterpretieren. Dabei erklärt er aber auch, dass Kontakt zu anderen Menschen, eben weil er ihm nicht so gelingt, wie er sich das wünscht, Stress erzeugt.
Neben einem kaum beherrschbaren Körper plagt ihn eine Rastlosigkeit. Die Suche nach einem Platz, an dem er selbst zur Ruhe kommen könnte, lässt ihn nirgends lange verweilen. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist sehr gering.
Als Kind fürchtete er, der Autismus würde ihm ein Leben als Mensch (!) überhaupt unmöglich machen. Seit er sich zumindest in Schriftform ausdrücken kann, beantwortet er die Frage, ob er gerne „normal“ wäre, damit, dass Autismus für ihn Normalität bedeutet und
„[…] so long as we can learn to love ourselves. I’m not sure how much it matters whether we’re normal or autistic.“
Er betont auch, dass Autisten dieselben Emotionen haben wie andere Menschen, genauso tiefgehend, genauso komplex. Die Hilflosigkeit angesichts seines Unvermögens z.B. in Bezug auf Konzentrationsfähigkeit, der Kontrolle über seine Bewegungen, die Stimmlage etc. treibt ihn gelegentlich zu Panikattacken. Unter seinen Wutausbrüchen, wenn ihm kleine Fehler passieren, leidet er selbst ganz besonders, und doch kann er sie nicht verhindern.
Sprachlos in einer Punktwolke aus Erinnerungen
Vor allem litt und leidet Naoki zum Teil noch immer darunter, dass es ihm nicht möglich ist, Gespräche so locker zu führen wie andere Menschen. Seine Sprachlosigkeit schnitt ihn lange Zeit von der Menschheit ab, er fühlte sich von der ganzen Welt allein gelassen.
Dabei scheinen die Gedanken zum Teil auf ihrem Weg verloren zu gehen, bevor sie zu Worten werden können. Sein Gedächtnis beschreibt er als eine Art Punktwolke, aus der er aufgrund von Ähnlichkeiten passende Antworten und Handlungen zu picken versucht. Manchmal tauchen daraus auch plötzlich Erinnerungen auf, die ihn zu einem Verhalten veranlassen, das mit seinem Hier und Jetzt nichts zu tun hat und daher oft unpassend wirkt.
Eine der Einsichten, die man beim Lesen dieses Buches gewinnen kann ist, dass es sich um eine Fehlannahme handelt, mangelndes Einfühlungsvermögen wäre vor allem eine Charakteristik von Autisten. Letzteren fehlt oft nur die Ausdrucksweise für das, was sie wahrnehmen. Nein, die fehlende Empathie ist auch auf Seite jener zu finden, die Autisten begegnen. Wenn jemand mit Naoki spricht, als wäre er ein Kleinkind, so fühlt sich der Jugendliche dadurch gekränkt und jeglicher Chancen auf eine faire Zukunft beraubt, wie er meint.
Über einen gebührlichen Umgang miteinander sagt er z.B.:
„True compassion is about not bruising the other person’s self-respect.“
Ein autistischer 13-Jähriger legt uns gegenseitige Wertschätzung ans Herz. Wir sollten viel öfter auf ihn hören.
Eine Kurzgeschichte über eine kleine Familie und große Verluste
Die Geschichte „I’m right here“ am Ende des Buches ist unglaublich ergreifend. Naoki leitet sie ein mit dem Satz:
„If this story connects with your heart in some way, then I believe you’ll be able to connect back to the hearts of people with autism too“
Vom Inhalt möchte ich gar nichts verraten, denn der junge Autor baut einen wunderbaren Spannungsbogen auf, dem der unvorbereitete Leser gebannt folgt.
Die Geschichte berührte mich zutiefst. Es ist kaum zu glauben, dass sie von einem so jungen Menschen geschrieben wurde, noch dazu einem, dem es so schwer fällt, seine Gefühle zu zeigen.
Diese Kurzgeschichte alleine ist es schon wert, das Buch zu kaufen.
Gelesen: Naoki Higashida in der Übersetzung von KA Yoshida und David Mitchell: „The Reason I Jump“, Sceptre, 2013
Danke für die Beschreibung des Buches. Ich habe es mir bestellt und werde es lesen.
Ich finde es wirklich schwierig oft mit diesen Vorurteilen gegenüber Autisten umzugehen.
LG
Coreli
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Danke für diese sehr spezielle Buchempfehlung. Ich denke, wir sollten häufiger über den Tellerrand unserer ‚Normalität’ hinausschauen. Wie Bruce Cockburn sagte (oder sang): ‚The trouble with normal is, it always gets worse.’ Dies lässt sich auch so verstehen, dass wir durch unsere Normalität betriebsblind werden. D.h. wir gewöhnen uns mit der Zeit an unsere Defizite, weil wir sie als normal betrachten. Da kann ein Blick aus einer anderen Perspektive sehr aufschlussreich und nützlich sein.
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Ja, der Tellerrand wird manchmal zu einem Gebirge und das Tal davor scheint alles zu enthalten, was wir brauchen/wollen/müssen/dürfen – bis wir uns auf einen Berg hinaufkämpfen und am Gipfel stehend sehen können, dass es noch viele andere Täler gibt
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In manchen Fällen scheint es mir von Anfang an kein Teller sondern ein Haferl zu sein. 😉
Aber eben. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man mit dem Finger auf andere zeigen möchte. Manchmal liegt das bei anderen erkannte Defizit in Wirklichkeit bei uns. 🙂
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