„The Curious Incident of the Dog in the Night-time“ (Mark Haddon)
Dieses Buch, das in der deutschen Übersetzung „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ heißt, hat mich zunächst aufgrund seines sperrigen Originaltitels neugierig gemacht. Die Andeutung eines rätselhaften Ereignisses in Zusammenhang mit einem Tier weckte mein Interesse. Den deutschen Titel halte ich auch für einen ganz gelungen Teaser:
Wie könnte so ein „superguter Tag“ aussehen? Ich könnte auf jeden Fall mehr davon brauchen. Und wie sonderbar kann „sonderbar“ eigentlich sein?
Ich hätte das Buch auch in die Hand genommen, wenn mir die deutsche Übersetzung untergekommen wäre.
Die Themen des Buches sind …
Ich fing an zu lesen. Schon auf der ersten Seite, in Kapitel 2, erfährt man, was dem Hund in der Nacht passierte. Buchdeckel zu und erledigt? Mitnichten! (Müsste ich jetzt genderneutral womöglich „Mitnichten/Mitneffen!“ schreiben? Egal, über solche ‚curious incidents of political correctness‘ blogge ich vielleicht ein anderes Mal.)
Zunächst blätterte ich überrascht zurück und suchte Kapitel 1, stellte dann aber fest, dass die Erzählung nun mal mit Kapitel 2 beginnt. Die Nummerierung ist ungewöhnlich. Doch das ist nur eine der vielen Sonderbarkeiten in der Welt eines 15-Jährigen mit Asperger Syndrom. Protagonist und Ich-Erzähler ist Christopher Boone und das ist seine Geschichte, sein Buch:
[…] This is another reason why I don’t like proper novels, because they are lies about things which didn’t happen and they make me feel shaky and scared.
And this is why everything I have written here is true. […]
Sobald das Schicksal des Hundes bekannt ist, stellte sich aber nicht nur mir, sondern vor allem auch dem Teenager sofort die Frage: „Warum ist dem Hund das geschehen?“
Die Suche des Jungen nach der Antwort reißt ihn aus seinem sehr geregelten Alltag. Im Laufe seiner ungewöhnlichen Art, Nachforschungen zu betreiben, erhält Christopher u.a. Informationen über seine Eltern, die er (zunächst) nicht richtig zu deuten vermag. Etwas nicht wörtlich zu nehmen, zwischen den Zeilen zu lesen, scheint ihm überhaupt unmöglich. Beim Leser aber entstehen bereits Unbehagen und Vorahnungen auf dunkle Geheimnisse.
Seine eigenwilligen Versuche, Ordnung in den Alltag zu bringen, sein Unvermögen Gesagtes nicht wörtlich zu nehmen, erzeugten in mir immer wieder den Wunsch zu rufen: „Sei doch lockerer!“ oder „Die machen sich doch lustig über dich! Merkst du das denn nicht?“
Es ist erschütternd wie hilflos ausgeliefert dieser Teenager seinen Bezugspersonen ist. Und welchem Spott und welchen Grobheiten er aufgrund seiner Eigenarten ausgesetzt ist. Den Leser schmerzen manche wütenden Worte sowohl Fremder als auch jener Menschen, die Christopher eigentlich Geborgenheit und Liebe geben sollten, aber mit dem Jungen oder ihrem eigenen Leben gelegentlich einfach überfordert sind, vermutlich sogar mehr als den Protagonisten selbst, da letzterer Gefühle nicht wirklich nachvollziehen kann.
Dafür überrascht er von Zeit zu Zeit mit einer Flexibilität, die nicht ganz konsistent mit seinem restlichen Verhalten erscheint. Inwiefern hier nur die Phantasie des Autors und die literarische Wirkung Regie führten, oder ob es sich dabei um eine realistische Schilderung zum Teil sehr gegensätzlicher Befindlichkeiten und Fähigkeiten eines jungen autistischen Menschen handelt, kann ich nicht beurteilen.
Ich nehme an, es ist möglich, dass es jemanden wie Christopher Boone gibt.
Seine Freizeit verbringt er mit Computerspielen, dem Ansehen von Dokumentationen über die Ozeane, dem Spiel und der Pflege seines Haustieres und vor allem der Mathematik. Letztere ist seine Zuflucht und Leidenschaft, eben weil sie ohne Emotionen klar verständlich ist.
[…] I think prime numbers are like life. They are very logical but you could never work out the rules, even if you spent all your time thinking about them […]
Ein Lesevergnügen – nur leicht getrübt
Die Geschichte ist von Beginn an spannend und bleibt es durch überraschende Wendungen und Verflechtungen scheinbar getrennter Handlungsstränge auch bis zum Schluß. Es gibt aber einige Stellen, die man inhaltlich getrost überfliegen kann: Auflistungen, welche die Wahrnehmungen und die Tagesabläufe Christophers taxativ wiedergeben, fast wortgetreue Wiederholungen seiner Ansichten, Zukunftspläne und ähnliches. Diese ermüdende Detailgenauigkeit und im Wortlaut beinahe identischen Absätze veranschaulichen auf ihre Art jedoch sehr gut wie der rigide Ordnungssinn des autistischen Jungen an seine Grenzen gelangt oder sogar überstrapaziert wird, wenn er von seinen gewohnten Bahnen abweicht.
[…] there is only ever one thing which happened at a particular time and a particular place. And there are an infinite number of things which didn’t happen at that time and that place. And if I think about something which didn’t happen I start thinking about all the other things which didn’t happen. […]
Als mathematisches Gimmick wird in dem Buch nicht nur das Monty Hall Problem (auch genannt das Ziegenproblem oder das Drei-Türen-Problem) etwas ausführlicher behandelt (mit interessanten Zitaten unterlegt), sondern auch der Lösungsweg für eine Mathematikaufgabe im Zusammenhang mit dem Satz des Pythagoras im Appendix im Detail beschrieben.
Fazit
Das Buch würde ich auf jeden Fall empfehlen.
Während die Zielstrebigkeit des Protagonisten beinahe bewundernswert motivierend ist, lassen einige Szenen sowie das repetitive Verhalten Christophers, das sich auch im Schreibstil niederschlägt, einen etwas bitteren Beigeschmack zurück, doch das macht es auch wieder zu etwas Besonderem:
„The Curious Incident of the Dog in the Night-time“ ist kein Buch, das man einfach vergißt, wenn man es aus der Hand legt.
gelesen Haddon, Mark (2003): The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (e-book). London: Vintage Books
About the Book: A murder mystery novel like no other […]
Danke für diesen sehr speziellen Buchtipp. Ein der Beschreibung nach zu urteilen sehr bemerkenswertes Buch über ein wichtiges Thema. Ich halte es – aus dieser esnochnichtgelesenhabenden Distanz betrachtet – für klug, sich dem Thema auf literarisch-erzählerische Weise zu nähern. Erstens, weil es als Fiktion verpackt möglicherweise einfacher ist, auf empathische Weise eine Annäherung zu versuchen. Und genau das wird es ja letztlich sein. Eine Annäherung. Der Versuch, eine zumindest teilweise begehbare Brücke zwischen zwei unterschiedlich getakteten Welten zu bauen.
Der deutsche Titel gefällt mir übrigens auch sehr gut. Und er zeigt auch, dass es manchmal besser ist, nicht zu sehr am Wortlaut des Originals kleben zu bleiben, sondern das Wesentliche des Inhalts in die Zielsprache hinüberzutragen.
[Der Hinweis auf den Beginn mit Kapitel 2 stimmt mich jetzt nachdenklich, weil ich Ähnliches mit meiner Nordfrau gemacht habe. Allerdings habe ich dort Teil I mit einem Hintergedanken übersprungen.]
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Mir gefällt das Zitat „[…] This is another reason why I don’t like proper novels, because they are lies about things which didn’t happen and they make me feel shaky and scared.“
Vielleicht wäre es eine Geschenkidee für die Deutschlehrerin meines Sohnes (15 Jahre Asperger-Syndrom). Die kann sich das nicht so wirklich vorstellen. Vorallem dieses „shaky and scared“.
LG
Coreli
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Ja, vielleicht würde das wirklich helfen.
Ich habe es jedenfalls als zum Teil sehr bedrückend erlebt, wie der „ganz normale Alltag“ auf den Jungen einzustürzen scheint, ihn überfordert und ängstigt (z.B. am Bahnhof unter vielen Menschen …). In dieser Hinsicht gibt das Buch durch seine Erzählperspektive aus Sicht Christophers sicherlich Einblicke, die man sonst nicht hat oder haben will.
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Es gibt übrigens auch das Buch „The reason I jump“, das tatsächlich von einem autistischen Jungen geschrieben wurde. Er versucht darin eben seine Innenwelt zu erklären. (Darüber kann ich auch gerne noch einen kurzen Beitrag schreiben, ich muss nur wieder reinblättern, weil es schon ein Jahr her ist, dass ich es gelesen habe)
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Ja, das fände ich sehr interessant.
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Hallo, ich habe heute das oben genannte Buch auf meinem Blog vorgestellt. Also bei Interesse, hier ist der Link:
https://meinnameseimama.com/2016/05/09/gelesen-ein-autistischer-junge-erklaert-seine-welt/
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Hmmm … Das klingt verlockend und ist soeben auf der Wunschliste gelandet. Spannendes Thema, habe ich literarisch verarbeitet bislang noch nicht gesehen. Was die Flexibilität von Aspergern angeht: So wie ich das sehe, sind die immens flexibel, weil sie sich, wird ihre Routine gestört, ganz schnell neue Muster und Routinen zulegen müssen, um mit der Situation klar zu kommen. Dass sie das können, ist meiner Ansicht auch der bedeutende Unterschied zwischen „klassischem“ Autismus und dem Asperger-Syndrom. Aber für Genaueres muss ich erst mal das Buch lesen.
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Interessante Anmerkung bzgl Flexibilität und Asperger. Genau dieses Vermögen, sich rasch ein neues Muster zu suchen, einen neuen Plan zu machen erschien mir irgendwie unrealistisch. Aber wenn es zutrifft, was du sagst ( davon gehe ich jetzt aus), dann passt dieses Verhalten ja sogar sehr gut ins Gesamtbild.
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