Für den Winterzauber bedurfte es eines Winterbaums aus dem Winterwald, um das Winterwunderland im eigenen Wohnzimmer zu erschaffen. „I’m dreaming of a white Christmas“ summte sie fröhlich vor sich hin, wenn sie nicht gerade wie ein kleines Kind über Weihnachten, die leuchtenden Weihnachtskugeln, den strahlenden Weihnachtsstern, entzückende Weihnachtsengel, betörenden Weihnachtsduft und herrliche Weihnachtskekse plapperte. Ab dem 3. November drang in ihrem Haus nichts anderes aus der Stereoanlage als Weihnachtslieder.

Wenn er noch einmal ein Wort, das mit Winter- oder Weihnachten anfing hören musste, würde er den ganzen picksüßen Weihnachtspunsch auskotzen. Da war er sich sicher. Nein, mehr noch. Er würde durchdrehen, endgültig und vollständig. Ja, anders konnte es nicht sein. Er war seit Wochen wie ein Druckkochtopf kurz vor dem Explodieren, sie zu einem  Winterweihnachtsmonster mutiert. Die schrillen Töne von „Süßer die Glocken nie klingen“, die gerade an sein Ohr drangen, machten die Sache kein bisschen erträglicher.

Es war ein nasskalter Wintertag als er abends im Garten mit der Schaufel ein großes Loch aushob. Eine schreckliche Plackerei, da die Erde stellenweise gefroren und schwer vom Schneeregen der letzten Tage war, aber er musste das hier zu Ende bringen. Da führte kein Weg daran vorbei. Als er zwei Stunden später das Loch zuschaufelte, stieß er schwitzend und fast unhörbar ein bitterböses „Dir wird sicher niemand nachtrauern!“ zwischen den geschlossenen Zähnen hervor.

Dann war es endlich vollbracht. Weihnachten war vorüber. Die Tortur war überstanden. 11 Monate Zeit ehe sie wieder diesem Sing-, Back- und Dekorierungswahn verfallen würde. Sie waren auch wirklich die einzige Familie, die er weit und breit kannte, die ihren Christbaum nach Dreikönig nicht einfach zum Verbrennen zum Müll warfen, sondern feierlich im Garten beerdigten. Aber er konnte ihr halt keinen Wunsch abschlagen.

2018 49+50 | 365tageasatzaday


Ein Beitrag zu Christianes Schreibeinladung zu den abc-Etüden mit den drei Worten von Elke H. Speidel (Transworte auf Litera-Tour):

Winterbaum
nasskalt
nachtrauern