Glücklicherweise war es nicht nasskalt. Nasskalte Tage konnte er nicht ausstehen und nasskalte Nächte waren ihm sogar noch verhasster. Den Schlechtwettereinsätzen würde er im Ruhestand keinesfalls nachtrauern. Nein, Schreibtischarbeit war ihm zu langweilig, aber im Regen zu arbeiten machte auch keinen Spaß.

Es war eine sternenklare Nacht mit klirrender Kälte. Ob das Zittern seiner Zähne den eisigen Temperaturen oder der Aufregung geschuldet war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er war ängstlicher geworden auf seine alten Tage. Da stand er nun und starrte auf den Winterbaum, vor allem aber auf den Mann, der daran hing. Im Kegel des Lichtscheins seiner Taschenlampe betrachtete er langsam von unten nach oben die zerrissenen Jeans, den grünen Pullover und schließlich die schwarze Sturmhaube.

Die Augen sahen jung aus, aber vielleicht täuschte das auch. War es ein Vater mit Kindern zu Hause? Vielleicht war er auch noch Student. Egal. Er nahm die Taschenlampe in den Mund, um die Hände frei zu haben. Da nannten sie sich Aktivisten und waren alles andere als aktiv. Passiv hingen sie in den Bäumen, angekettet wie Affen an einer zu kurzen Leine – bewegungsunfähig oder -unwillig. Und das alles wegen ein paar Bäumen. Er rückte seinen Helm zurecht und griff nach der Zange, die oben auf in der Werkzeugkiste neben ihm lag.

Durchschneiden und pflücken. „Erntezeit“ murmelte er. Der Typ, den er gerade losgeschnitten hatte, klammerte sich jetzt mit den bloßen Händen an der dicken Rinde fest. „Kommen Sie bitte mit!“ hörte er die eigene Stimme im Befehlston sagen. Kriege müssen nicht immer ausgefochten werden, manchmal kann man sie auch zerreden. Gutes Zureden, der Aktivist würde von selbst aufgeben und er müsste nicht schleppen. Das wünschte er sich, aber den Mann mit der Sturmhaube musste er schließlich wie einen Mehlsack wegtragen. Sein letzter Einsatz und so eine Schinderei.


2018 49+50 | 365tageasatzaday

Ein Beitrag zu Christianes Schreibeinladung zu den abc-Etüden mit den drei Worten von Elke H. Speidel (Transworte auf Litera-Tour):

Winterbaum
nasskalt
nachtrauern