Tante Tex hat die Wörter für den Story Samstag in der stillsten Zeit des Jahres ausgerufen und sie lauten:

  • Drehmoment
  • Revision
  • Vertreter
  • Ostpreußen
  • Konferenz

Mindestens drei davon sollen in der Weihnachtsgeschichte vorkommen. Nun denn, wenn es so verkündet wurde …

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Unterwegs ins Büro

Eine Konferenz in der letzten Kalenderwoche anzusetzen, das konnte nur Vertretern seines Berufsstandes einfallen. Nicht, dass er in diesen Tagen irgendetwas Privates geplant hatte. Weihnachten feierte er genauso wie Silvester und seine Geburtstage alleine, nur für sich. In ein paar Jahren würde er in Pension gehen, aber so etwas hatte er in seiner ganzen Zeit als Beamter nicht erlebt. Es war doch ungewöhnlich. Sein Vorgesetzter hatte den Termin, über den die Familienväter ebenso laut gemurrt hatten wie die Schifahrbegeisterten, die sich nach Hüttenzauber und Tiefschnee sehnten, mit der Dringlichkeit der „findings“ der letzten Revisionsprüfung begründet.

Findings“ – heutzutage musste ja jedes zweite Wort in einer Besprechung englisch sein, dachte er, als er in die U-Bahn einstieg. Ab ins Büro also, heute, zwischen den Feiertagen.

Er wippte mit den Zehen seines übergeschlagenen Beins im Takt ohne aufzusehen. Die Musik war schon von weitem zu hören, denn es war sonderbar still in der U-Bahn an diesem Tag nach Weihnachten. Die wenigen Leute, die heute so früh unterwegs waren, saßen schweigend da und starrten ins Schwarz des Tunnels vor dem Fenster oder auf das Display ihrer Handies. Niemand sprach. Niemand telefonierte. Der Ziehharmonikaspieler näherte sich seinem Platz. Eine jazzige Jingle Bells-Version tönte durch den halbleeren Waggon. Erst als der Musiker – nach einem kurzen Halt direkt vor ihm – wortlos weitergegangen war, legte er sein Buch über die Geschichte Ostpreußens neben sich auf den leeren Sitzplatz und schaute dem Mann in schlechter Kleidung nach.

Eigentlich hätte er ihm eine Münze dafür geben sollen, sie wäre verdient gewesen, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, Bettler zu beschenken. Nicht einmal zu Weihnachten, selbst dann nicht, wenn sie Musik machten. Schöne Musik. Nur heute neigte er stark dazu, seine Prinzipien zu ignorieren und doch etwas in den Pappbecher zu werfen, der mit einer Schnur an der Ziehharmonika festgebunden war. Seine Hand wanderte in die Jackentasche und fingerte nach Kleingeld. Doch er hatte keine Münzen eingesteckt. Natürlich nicht. Alles war fein säuberlich in seiner Geldtasche verstaut und die wollte er nicht herausnehmen in der Öffentlichkeit. Man wusste ja nie, wer zusah.

Der Ziehharmonikaspieler stand bereits vor der Türe am Ende des Waggons, bereit bei der nächsten Station auszusteigen, um in einem anderen Zug sein Glück zu versuchen. Also verwarf er den Gedanken des Gebens rasch wieder und lauschte mit schlechtem Gewissen dem instrumentalen „oh what fun it is to ride …

Ach, welche Erinnerungen dieses beschwingte Lied in ihm hervorrief!

Er hatte Anne gerade erst kennen gelernt. Unheimlich nervös war er damals auf der Weihnachtsfeier seiner Fakultät gewesen. Diesen Abend würde er niemals vergessen, da war er sich sicher, und doch hatte er sehr lange nicht an ihn gedacht:

Weihnachten ’78

Da war diese wunderschöne Frau an seiner Seite und er schwitzte wie verrückt aus Angst etwas falsch zu machen. Nur nichts Falsches sagen, immer lächeln, locker wirken, intelligente Witze machen. Er liebte ihr Lachen. Er wollte sie unbedingt lachen sehen, zum Lachen bringen. Und er wollte sie natürlich beeindrucken. Doch er hatte keine Ahnung wie er das anstellen sollte. Abgesehen von seinem Studium fiel ihm nicht viel ein, worüber er reden könnte. Im Umgang mit anderen war er stets ungeschickt und verklemmt. Smalltalk lag ihm nicht. Bevor er etwas Belangloses sagte, schwieg er lieber. Die ersten Minuten der Verabredung vergingen furchtbar langsam und zäh.

Erst als die Musik begann, wurde er gelöster. Diese Wirkung hatte Musik bei ihm. Bei Jingle Bells zog sie ihn einfach auf die Tanzfläche. Da geschah es. Im Bemühen, einen besonders guten Tänzer zu mimen, packte er sie an der Hüfte und wirbelte sie herum. Alles was er sah, waren ihre leuchtenden braunen Augen, die langen, wunderbar duftenden, dunklen Haare und ihr bezauberndes Lachen. Plötzlich lagen sie eng umschlungen auf der Tanzfläche. Mit lautem Gepolter waren sie hingefallen, er mehr oder weniger auf sie drauf, weil er das Drehmoment unterschätzt hatte. Ihm stockte der Atem. Alle rundherum starrten sie an. Ihm schoß das Blut in den Kopf vor Scham. Er rappelte sich hölzern auf in dem Wunsch, den Saal so schnell wie möglich zu verlassen, davon zu laufen von diesem peinlichsten Augenblick seines bisherigen, unscheinbaren Studentenlebens. Da hörte er ihr Lachen. Laut, herzlich, ansteckend. Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

So saßen sie am Weihnachtstag am Boden im Festsaal des ehrwürdigen alten Universitätsgebäudes, umringt von den glotzenden Kommilitonen und deren Tanzpartnern, und lachten und lachten – gemeinsam, über sich selbst. Und von der Platte tönte Ella Fitzgeralds Jingle Bells durch den Lautsprecher:

„…laughing all the way … making spirits bright …“

Er wischte sich mit dem Handrücken die Augen, griff nach seinem Buch und räuspernd versank er in den Berichten über längst vergangene Zeiten einer Stadt namens Königsberg. Nach der Konferenz würde er heute am Friedhof vorbeifahren, eine Kerze anzünden und seiner Anne ganz leise Jingle Bells vorsummen.