Abfallglück
Verfallsdatum
unschuldig
Wenn mein Hirn im Müßiggang ist, sich der Körper halb in Trance durch den morgendlichen Frühverkehr schiebt, werken die aktuellen Wörter der abc-Etüden von Christiane – diesmal mit den Worten von Etüdenerfinder Ludwig Zeidler – in mir und leiten die Finger an, ihrer Arbeit Mühsal ins Handy zu tippen. Und das kommt dabei heraus, nachdem ich am Vorabend über Konstruktivismus sowie einen Brief von Rosa Luxemburg über ihr Mitleid mit einem Büffel gelesen hatte.
Du bist, wer du denkst zu sein. Du erschafft dich selbst mit jeder Tat, an jedem Tag neu, und doch hast du eine Vergangenheit. Aber was du aus ihr machst, bestimmt du selbst! Es beeinflusst deine Zukunft.
Du bist kein unschuldiges Lamm, das zitternd zur Schlachtbank geführt wird, nein, du bist der Stier, der einen zwei Meter hohen Zaun überspringt ehe er sich aufschlitzen lässt von Menschen, die dich betrachten, behandeln als seist du nur ein Ding, ohne Gefühle. Deine Schlächter erkennen nicht die Einzigartigkeit deines Seins – eine Geburt, ein (qualvoller) Tod. Alles dazwischen wird zusammen mit deinem Körper für immer ausgelöscht.
Ignorant treiben sie dich an, das Unmögliche zu versuchen: Dem Schicksal zu entrinnen.
Was dir passiert, ist das, was du möchtest. Was du nicht verhinderst.
Ein Augenblick der Schande kann ein ganzes Leben lang seine Schatten werfen, oder aber du wischst ihn weg wie einen Schmutzfleck von der Tischplatte.
Tabula rasa, das Ich als unbeschriebenes Blatt, das nur darauf wartet gestaltet zu werden. Mit flinken Strichen, die über die Tafel sausen, manchmal kratzen, quietschen, schaben, zeichnest du die Person, die dir gefällt.
Welch Abfallglück, wenn deine stiefmütterlich versteckten Anteile so gut weggesperrt sind, dass du glaubst, sie wären nur Abfall, den man vielleicht eines Tages ans Licht zerrt, um ihn unter Gejohle zu verbrennen.
Doch warte nicht zu lange, denn jedes Leben hat ein Verfalldatum. Ist es erst einmal überschritten, dann wirst du zum Sklaven der Zeit, der stets hetzt und niemals froh wird, aus Angst er könnte seine kostbarsten Güter vergeuden, die Zeit, das Leben.
So sprach er, sah den überraschten Therapeuten kurz eindringlich an, nachdem er während seiner Rede immer nur auf seine Schuhspitzen gestarrt hatte, warf einen Blick in die Runde verwirrter Mitpatienten, schob den Sessel quietschend zurück, stand auf und verließ wortlos den Gruppentherapieraum.
Ja, das habe ich auch schon erlebt, dass Patienten eine Weisheit mit in die Gruppensitzungen gebracht haben, die die leitenden Psychologen sichtlich überfordert hat. In deiner Etüde stecken so viele wertvolle Kleinigkeiten, über die das Nachdenken lohnt. Danke!
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ein Text voller Aphorismen, die es lohnen würde, einzeln zu betrachten und hin und her zu wenden, „Ein Augenblick der Schande kann ein ganzes Leben lang seine Schatten werfen,“ „…treiben sie dich an, das Unmögliche zu versuchen: Dem Schicksal zu entrinnen.“ Schaf oder Stier? das Ende gleicht sich. „Du bist, wer du denkst zu sein.“ Sätze, die herausfordern.
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Da werden einige gestaunt haben und verstummen bei dieser sehr ehrlichen Eigensicht – einzig dieser Satz stößt bei mir auf einen kleinen Widerstand: „Was dir passiert, ist das, was du möchtest.“
Ich glaube nicht, dass alles was passiert in der eigenen Hand liegt.
Eine tolle Etüde ist dir allemale gelungen!
Herzliche Grüße
Ulli
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Ja, den Satz kann ich auch nicht vollinhaltlich unterstützen – da gibt es (entgegen mancher Meinung) doch auch so etwas wie Schicksalsschläge. Nur der Umgang damit, liegt bei uns, allerdings auch nicht immer selbstverschuldet, denn wer z.B. aufgrund seiner Vergangenheit wenig Resilienz mitbringt, kann sich vermutlich nicht plötzlich zu einem Menschen mit dickem Fell entwickeln und alles locker wegstecken.
Lieber Gruß, M. Mama
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Aaaah! Na, DIE Gesichter hätte ich wirklich gerne gesehen.
Der Mist ist, dass das tatsächlich passieren kann. Und dann ist er höchstwahrscheinlich in der tollen Situation, dass keiner dabei ist, mit dem er sich auf Augenhöhe unterhalten kann. Möglicherweise ist sogar der Therapeut überfordert. Genau, was man sich wünscht.
Feine Etüde, danke 😀
Liebe Grüße
Christiane
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