Abfallglück
Verfallsdatum
unschuldig

Wenn mein Hirn im Müßiggang ist, sich der Körper halb in Trance durch den morgendlichen Frühverkehr schiebt, werken die aktuellen Wörter der abc-Etüden von Christiane – diesmal mit den Worten von Etüdenerfinder Ludwig Zeidler – in mir und leiten die Finger an, ihrer Arbeit Mühsal ins Handy zu tippen. Und das kommt dabei heraus, nachdem ich am Vorabend über Konstruktivismus sowie einen Brief von Rosa Luxemburg über ihr Mitleid mit einem Büffel gelesen hatte.

2019 02+03 | 365tageasatzaday

Du bist, wer du denkst zu sein. Du erschafft dich selbst mit jeder Tat, an jedem Tag neu, und doch hast du eine Vergangenheit. Aber was du aus ihr machst, bestimmt du selbst! Es beeinflusst deine Zukunft.

Du bist kein unschuldiges Lamm, das zitternd zur Schlachtbank geführt wird, nein, du bist der Stier, der einen zwei Meter hohen Zaun überspringt ehe er sich aufschlitzen lässt von Menschen, die dich betrachten, behandeln als seist du nur ein Ding, ohne Gefühle. Deine Schlächter erkennen nicht die Einzigartigkeit deines Seins – eine Geburt, ein (qualvoller) Tod. Alles dazwischen wird zusammen mit deinem Körper für immer ausgelöscht.

Ignorant treiben sie dich an, das Unmögliche zu versuchen: Dem Schicksal zu entrinnen.

Was dir passiert, ist das, was du möchtest. Was du nicht verhinderst.

Ein Augenblick der Schande kann ein ganzes Leben lang seine Schatten werfen, oder aber du wischst ihn weg wie einen Schmutzfleck von der Tischplatte.

Tabula rasa, das Ich als unbeschriebenes Blatt, das nur darauf wartet gestaltet zu werden. Mit flinken Strichen, die über die Tafel sausen, manchmal kratzen, quietschen, schaben, zeichnest du die Person, die dir gefällt.

Welch Abfallglück, wenn deine stiefmütterlich versteckten Anteile so gut weggesperrt sind, dass du glaubst, sie wären nur Abfall, den man vielleicht eines Tages ans Licht zerrt, um ihn unter Gejohle zu verbrennen.

Doch warte nicht zu lange, denn jedes Leben hat ein Verfalldatum. Ist es erst einmal überschritten, dann wirst du zum Sklaven der Zeit, der stets hetzt und niemals froh wird, aus Angst er könnte seine kostbarsten Güter vergeuden, die Zeit, das Leben.


So sprach er, sah den überraschten Therapeuten kurz eindringlich an, nachdem er während seiner Rede immer nur auf seine Schuhspitzen gestarrt hatte, warf einen Blick in die Runde verwirrter Mitpatienten, schob den Sessel quietschend zurück, stand auf und verließ wortlos den Gruppentherapieraum.