„Jeder Reise beginnt mit dem ersten Schritt“ ist eine von einem Spruch von Laotse abgeleitete Weisheit, die man gerne auf Geburtskarten schreibt. Wir haben das bei unseren Kindern nicht getan, obwohl ich den Spruch – gerade wegen seiner Banalität – sehr ausdrucksstark finde.

Manchmal muss man Schritte setzen, von denen man immer angenommen hatte, sie würden nicht notwendig werden. Das wären nur Wege, die andere wagen müssten. So kann der Spruch zwar für einen Anfang stehen, aber auch für ein Ende, eine Abschiedsszene. Für viele Situationen findet man eine gute Lösung. Für viele, auch wenn es ursprünglich nicht danach aussieht, aber eben nicht für alle. Diese Überlegung liegt meiner Geschichte für die Extraetüden von Christiane mit den Dezember-Wörtern von Elke H. Speidel und dergl zugrunde: 

Winterbaum, nasskalt, nachtrauern
Regenbogen, 
transparent, bluten.

Bei den Extraetüden muss man 5 (aus 6) Begriffen in eine maximal 500 Wörter lange Geschichte verflechten: 

Extraetüden 01.19 | 365tageasatzaday

„Somewhere over the rainbow …“ sang sie leise vor sich hin und stopfte die Kleidung, die sie aus ihrem Teil des Schlafzimmerkastens genommen hatte, in den kleinen Koffer. „Der muss doch zugehen…“ murmelte sie leicht schwitzend, während sie versuchte, den Reißverschluss rund um den Wäscheberg, der den Kofferdeckel aufbog, zuzuziehen.

„… where trouble melts like lemon drops …“ nahm sie ihren Gesang wieder auf als sie es geschafft hatte. „Somewhere over the rainbow …“ Ihre Stimme klang nun lauter und befreiter durch das Haus.

„Was heißt das ‚Samwör owa de reinbou‘? fragte ihre größere Tochter und sah verwundert auf den Koffer in Mamas Hand.

Sie hielt kurz inne und antwortete dann lächelnd „Das heißt: Irgendwo hinterm Regenbogen“

„Das ist ein Lied über den Hintern von einem Regenbogen?!“ fragte das Kind verwirrt. Sie musste sehr lachen. „Nein, es handelt davon, dass es jenseits des Regenbogens ein wunderbares Land gibt, in dem sich Träume erfüllen und man sorgenfrei leben kann.“

„Wo fahren wir denn hin?“ fragte das Mädchen und griff nach seinen Winterstiefeln, die Augen auf den Koffer geheftet.

„WIR fahren gar nirgends hin, aber ICH fahre jetzt in das Land hinter dem Regenbogen“ sagte sie mit ernster Miene und öffnete die Haustür.

„Darf ich mitkommen?!“ rief das Mädchen ihr nach. Seine Stimme klang flehend, aber sie drehte sich nicht mehr um, sondern schluckte die Tränen hinunter und stieg in ihr Auto. In diesem Moment fühlte es sich an, als wollte ihr Herz zerspringen, aber irgendwann würde es besser werden. Für sie und für ihre Familie. Eine Wunde würde wohl immer zurückbleiben, gerade zu Weihnachten immer wieder aufbrechen und noch lange Zeit erneut frisch bluten. Das war ihr klar. Doch ihre Freiheit konnte sie nur zurückgewinnen, wenn sie jetzt ging. Jetzt, solange die Mädchen noch so klein waren, dass sie sie hoffentlich schnell vergaßen.

Nachtrauern würde sie ihrem alten Leben nicht. Der Haushalt und das Mutterdasein waren ihr über den Kopf gewachsen, wie ein dunkler, eisiger Schatten eines riesigen Winterbaumes an einem klaren, kalten Dezembertag.

Es war unangenehm nasskaltes Wetter als sie ihre Familie verließ. Warum sie es tat, konnte ihr Mann weder jemals wirklich selbst verstehen noch den Kindern tröstlich erklären. „Eure Mutter war immer sehr verschlossen, hat ihre Gedanken für sich behalten. Wer kann schon in einen anderen Menschen hineinsehen? Ganz besonders in eine Frau? Unmöglich.“

Tränen kullerten den Mädchen über die Wangen. Tropfen so transparent wie die  Regentropfen, die das Licht brechen und wunderbare Farbspektakel an den Himmel zaubern konnten. Nur dass sie salzig schmeckten und statt neues Leben zu bringen, nur altem, zerstörten nachweinten.