Wortgeflumselkritzelkram schreibt jede Woche über ein Buch, das sie gerade liest („Heute lese ich …„) und ich mache mit:
Bevor nächste Woche die Weihnachtsvorfreude mit dem Anzünden der ersten Kerze am Adventkranz so richtig Fahrt aufnimmt, noch ein herbstliches Buch, das aber genauso gut im Frühling oder Sommer angesiedelt sein könnte. Nur der Winter, der ist nicht enthalten, aber bei uns ist es derzeit sowieso so warm, dass man eher T-Shirt als Mantel trägt.
„Ich zeig dir das Glück kleines Küken“ (von Amy Hest; Loewe Verlag 2009) enhält drei Geschichten:
„Von der Karotte, die nicht wachsen wollte“
„Vom Drachen, der nicht fliegen wollte“ und
„Vom Stern, der nicht gepflückt werden wollte“
Das Buch eignet sich schon für Kleinkinder (vielleicht so ab 2 Jahren), da die Geschichten sehr kurz sind. Gefühle des Wünschens und Wartens, wie Vorfreude und Spannung, werden ebenso wie Enttäuschung und Ungeduld mit wenigen Worten ganz wunderbar auf den Punkt gebracht. Und die Zeichnungen machen das Buch auch für die Kinder zu einem Vorlesegenuß. Da passt jedes Wort und jeder Federstrich. Letzteres insbesondere, da sich die Geschichten ja um ein kleines Küken und sein Großtantchen, eine Henne drehen.
Die Stern-Geschichte ✰
finde ich ganz besonders gelungen:
Das Küken sieht einen schönen Stern und möchte ihn pflücken. Es will ihn besitzen, ihn in seine Tasche stecken. Doch so sehr es sich auch reckt und streckt, es kann den Stern nicht erreichen. Das Großtantchen, ein weises Huhn, das sehr ruhig und bedacht an Problemstellungen herangeht und scheinbar ganz beiläufig Lösungen herbeiführt, bewundert die Streckkünste des Kükens, meint dann aber, dass der Himmel ohne den Stern doch eigentlich recht langweilig wäre. Das sieht das kleine Küken ein. So bewundern die beiden schließlich den Abendhimmel und erfreuen sich an den aufgehenden Sternen, von denen jener des Kükens natürlich der allerschönste ist.
Ach, was für eine schöne Geschichte. Und so lehrreich: Verzicht lernen durch die Erkenntnis, dass dies zum eigenen größeren Nutzen beitragen kann als der Besitz selbst. Gut, man könnte jetzt auch Materialismus an sich oder Nutzenkurven diskutieren und dem Küken womöglich Egoismus unterstellen, aber soweit möchte ich hier, jetzt nicht gehen. Das Kind in mir denkt: Tiere, eine weise Alte und Sterne – was braucht eine gute Story mehr?
Die Geschichte über den Drachen
der nicht fliegen will, weil eben gerade kein Wind geht, gefällt mir auch sehr gut. Wie nebenbei fordert das Großtantchen das Küken auf, den Hügel hinauf zu gehen. Und schon kommt der Wind und trägt den Drachen – „Wuuuusch!“ – in die Lüfte. Auch hier steht die Ungeduld des kleinen Küken im krassen Widerspruch zur Gelassenheit des Großtantchens. Letzteres findet im wahrsten Sinne des Wortes den richtigen Weg, um den Drachen zum Fliegen zu bringen.
Die Geschichte über die Karotte
war für mich lange Zeit schwierig:
Das Küken wartet darauf, dass seine Karotte auf dem Feld wächst. Es möchte eine richtig große Karotte ernten. Das Warten dauert ihm aber viel zu lange und deshalb zieht es die Karotte schließlich aus der Erde, obwohl sie noch immer sehr klein ist. „Angestachelt“ zu dieser voreiligen Tat wurde es … von seinem Großtantchen! Lange Zeit dachte ich, dass das Huhn damit die niedrige Frustrationstoleranz kleiner Küken und Kinder eigentlich nur fördern würde und seine Antwort recht fragwürdig sei.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass es nicht nur für Kinder schwieriger geworden ist, den Wünschen nicht immer sofort nachzugeben, abwarten zu müssen, Vorfreude zu genießen. In einer Zeit von (was-auch-immer)-on-demand, 24/7 online Verfügbarkeit von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken wird Geduld nicht mehr geschätzt oder überhaupt nicht mehr erlernt. Tugenden haben es heutzutage schwer. Sie scheinen insgesamt in einem schlechten Ruf zu stehen, aber lassen wir das. Ich würde diesen Artikel ja jetzt auch gleich fertig schreiben, aber ich muss nur kurz einmal meine messages checken und news ticker lesen …
Erst vor kurzem habe ich dann die Antwort des Huhns begriffen: Das Großtantchen sagt, dass große Karotten zwar etwas Feines seien, aber man manchmal einfach nur eine kleine Karotte braucht. Da hat es sicherlich recht. Gemeint ist wohl, dass viele Probleme individuell behandelt werden müssen. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren.
Fazit
Das Buch hat mich beim ersten Mal lesen etwas erstaunt, weil das Großtantchen solche Dinge sagt wie: „Manchmal fliegt ein Drachen, und manchmal fliegt er einfach nicht.“ Satzfragmente werden gerne wiederholt und scheinbare Banalitäten zum Ausdruck gebracht. Aber genau diese scheinbaren Redundanzen machen das Buch zu etwas Besonderem. Es bringt auf sehr sanfte Weise Langsamkeit in den hektischen Alltag – ein Entschleunigungsbuch sozusagen, um den Modetrend-Selbstfindungs-Psycho-Sprech zu bedienen. Da ich aber weder das Wort „Sprech“ noch das Wort „Entschleunigung“ für gelungene und notwendige Wortkreationen halte, vergessen wir bitte ganz schnell wieder, dass ich den Satz eben überhaupt geschrieben habe. Ich versuche es anders zu formulieren: Das Buch erzeugt angenehme Ruhe.
Was ich – und hoffentlich meine Kinder – aus dem Buch mitnehmen:
Dinge, die man nicht ändern kann (z.B. Sterne lassen sich nicht pflücken) sollten wir so akzeptieren wie sie sind, aber versuchen das Beste daraus zu machen. Also, Gelassenheit und Freude gegenüber dem Ist-Zustand. ☯
Dinge, die nicht gleich gelingen (Drachen steigen lassen), von einer anderen Seite noch einmal probieren. Nicht missmutig aufgeben, sondern den Blickwinkel ändern bzw. im wörtlichen oder übertragenen Sinne, einen anderen Weg einschlagen. Also, Zielstrebigkeit ohne die Flexibilität im Denken und Handeln zu verlieren.
Und zu guter Letzt – wofür ich nur zwei Jahre, zwei Kinder und eine Buchbesprechung gebraucht habe, um es herauslesen zu können [sollte für Kleinkinder also gaaaar kein Problem sein, es gleich auf Anhieb aus dem Text per se zu erschließen]:
Groß ist nicht immer die Lösung. 🙂 Was im Fall A hilft, kann im Fall B unbrauchbar oder kontraproduktiv sein. Also, Unterschiede erkennen, differenzierte Betrachtungsweisen einüben, statt immer nur nach Schema F handeln zu wollen.
Ich liebe deine Buchbesprechungen und deinen Blick auf Kinderbücher. Ganz großartig 😊
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Vielen Dank!
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