Der Nieselregen der letzten Nacht hatte gerade einmal zarte Spuren in den Staub auf den Blättern der immergrünen Sträucher und in die hartnäckigen Schmutzschichten auf den geparkten Autos gezeichnet. Weggewaschen hatte er nichts. Nichts von all dem Dreck und Elend, das sie umgab. Eigentlich war es ja eine halbwegs saubere, quirlige, man könnte sogar sagen blühende Stadt, aber in ihren Augen spiegelte sich nur das wieder, was sich in ihrer Seele abspielte: Undurchdringliche Dunkelheit, die ihr Angst machte. Die sie würgend packte und oft stundenlang nicht losließ oder sie achtlos in ein Eck des Lebens warf und sie dort verrecken ließ. Fast. So gnädig war das Schicksal dann doch nicht. Sie sollte leiden. Lang, langsam, ohne Ende.

So unerwartet weich fühlte sich ihre Haut an, als sie eine Träne abwischte, die ihr über die Wange lief während sie durch die Fensterscheibe der Straßenbahn nach draußen starrte, dass ihre Hand erschrocken zurückschreckte. Eigentlich müsste an ihr längst alles hart und verknöchert sein, verdorrt, ja, versteinert. So fühlte es sich zumindest an.

Erst dachte sie, die irren sich, das wäre nur ein Missverständnis, etwas das sich mit einem Gespräch klären ließe. Ihr Kind tue so etwas nicht. Dann erlebte sie es selbst. Nach ein paar weiteren Schreianfällen und körperlichen Attacken meinten alle, es wäre eine Phase, so etwas komme vor, stress-und entwicklungsbedingt. Das gehe auch wieder vorüber. Dann baute man alle Hoffnung auf die Ergotherapie, schließlich auf die Psychotherapie. Bis zur Schule sei noch viel Zeit, keine Panik.

Und nun? Das „Wir holen ihr Kind dort ab, wo es steht“-Gelabere war verstummt, die Masken der verstehenden Pädagogik abgelegt. Statt zu fragen, was ein Kind dazu treibt, wortwörtlich außer sich zu geraten, wurde es von allen nur noch begafft wie eine Schaubudenattraktion. Ihr Herz wollte zerspringen. Sie fühlte sich so hilflos.

Ein Beitrag für Christianes Schreibeinladung (den abc-Etüden) mit den 3 Wörtern

Nieselregen
weich
irren

von Fundevogelnest