Vian wartete auf der Straße. Er fror und die Ohrstöpsel wärmten auch nicht, trotz der rasenden Beats, die darüber an sein Trommelfell drangen. Was sollte er machen? Nahm er den früheren Zug war er zu früh dran, nahm er den späteren Zug, kam er zu spät. Also, hieß ihn sein Pflichtbewusstsein lieber eine halbe Stunde bei jedem Wetter vor dem Tor zu warten, statt ein paar Minuten nach Punkt ins Büro zu hetzen. Nein, er hatte keinen Schlüssel und nein, außer ihm war um diese Zeit noch niemand da.

„Darf ich Sie stören?“

Nein, dürfen Sie nicht – ist, was er dachte, aber höflichkeitshalber nahm er einen Kopfhörer ab und lauschte mit wenig Interesse, welche Bettelgeschichte ihm gleich aufgetischt werden würde. An so zentraler Stelle in Wien musste man damit rechnen, bei jedem Gang von und zur U-Bahn um ein paar Euro, Zigaretten oder die seltsamsten Gefallen („Können Sie bitte holen das Medikament für mein Kind von Apotheke?“) „gebeten“ zu werden. Ihn wunderte immer wieder wie leicht sich die meisten Suchtkranken abwimmeln ließen und dass ihm noch nie jemand ein Messer unter die Nase gehalten hatte, wenn er ein genervtes, unfreundliches „Nein!“als Antwort zischte noch ehe eine Lügengeschichte zu Ende erzählt worden war.

Die junge Frau, deren Hautfarbe ein so fahles Grau hatte, dass sich daneben selbst verglühte Zigarettenasche noch bunt und gesund ausnahm, die ihm weiß hatte machen wollen, sie bräuchte das Geld nur für die „Jugendherberge“, obwohl er sie schon mehrfach hier hocken und mit zitternden Fingern, höchst nervös Pillen zählen gesehen hatte.

Warum sagten die Leute nicht einfach: „Haben Sie ein paar Euro für meinen Dealer?“ Das wäre wenigstens ehrlich und würde die Wertschöpfungskette des Geldes würdigen. Auch Dealer wollen schließlich bezahlt werden. Aber nein, vielleicht waren die Lügen die letzten Strohhalme, an die man sich klammerte, um einen Rest de facto nicht mehr existenter Selbstachtung aufrecht zu erhalten? Vielleicht halfen sie, die Härte der Sucht zu überstehen bis zum nächsten Trip, Schuss, oder wie auch immer die Art hieß, wie man gedachte, Gift zu sich zu nehmen. Was man nicht ausspricht, ist nicht. Welch schöne philosophische Seite eines verpfuschten Lebens.

Der Mann, der ihn angesprochen hatte, wartete geduldig darauf, dass er seine Aufmerksamkeit bekam. „Wissen Sie was mir gerade passiert ist?“

Nein, natürlich wusste er es nicht, denn er hatte noch nicht einmal gesehen, woher der ordentlich gekleidete Mann plötzlich gekommen war. „Ein Mann hat zu mir gesagt, ich soll zurück nach Hause gehen und hat ausgespuckt vor mir!“

Ganz plötzlich war er tatsächlich an der Geschichte interessiert. Er hatte ja auch nichts Besseres zu tun bis Frau Vogel auftauchte, die gewöhnlich als erste seiner Arbeitskollegen erschien und das Tor aufschloss.

Er schüttelte ungläubig den Kopf und fühlte sich fast augenblicklich als derjenige, der sich hier gleich besser zu benehmen hatte, um die moralische Ordnung der Gesellschaft wieder herzustellen.

„Ich komme aus Syrien. Ich habe in Linz Deutsch gelernt. Jetzt wohne ich in Reichenau an der Rax.“

Er nickte gespannt auf den weiteren Verlauf des Gesprächs und murmelte eine Art Lob, da sein Gegenüber tatsächlich fast akzentfrei sprach. Der Mann wirkte tatsächlich gerade etwas aufgebracht und in seiner Ehre gekränkt. „Entschuldigen Sie, ich muss mit jemanden sprechen. Ich habe meine ganze Familie verloren. Der einzige Überlebende.“ Wie zur Ablenkung von diesem traurigen Thema zeigte er auf ein goldenes Schmuckstück im Schaufenster vor dem sie standen. „Wie zu Hause. Auf dem Markt gibt es überall so etwas. Handarbeit. Jetzt ist alles zerstört.“

Und dann fing er an zu erzählen, dass er nun bald eine Arbeit in Wien bekäme, aber bis dahin kein Geld hätte, um die Zugkarte nach Niederösterreich zu bezahlen.

Danach ging alles sehr schnell. Vian zückte seine Geldtasche und wollte einen Geldschein herausziehen, der die halben Kosten eines Tickets gedeckt hätte. Doch der andere meinte verzweifelt: „Nein, ich kann nicht noch jemanden ansprechen!“ Das war ein valides Argument. Wer wollte schon betteln? Es war gewöhnlich das letzte Mittel der Wahl.

Also griff er nach einem weiteren Schein. Beim Herausziehen rutschten gleich noch andere mit. Und schon forderte der gerade noch so zerbrechlich wirkende, sympathische „Mensch wie du und ich“, dass er ihm einen Hin- und Rückfahrschein finanzieren müsse. Natürlich nur als Leihgabe, er würde ihn gerne besuchen, um das Geld zurückzugeben. Ein Angebot, das Vian keinesfalls anzunehmen gedachte, denn er wollte doch lieber anonym Geld schenken als einem Fremden seine Identität zu verraten.

Einen Batzen Geld leichter stand er dann da als Frau Vogel endlich erschien und starrte immer noch in die Richtung, in welcher der Fremde verschwunden war.

Gute Tat oder naives Opfer und großer Idiot? Diese Frage beschäftigte ihn den restlichen Tag und auch noch Tage danach. Hoffentlich ersteres, denn andernfalls muss der andere ja innerlich über seine Dummheit gebrüllt haben vor Lachen.

Diese „gute Tat“, dieses Ereignis, von dem er alsbald beschloss, niemandem mehr in seinem Bekanntenkreis zu erzählen, da er sich nicht dem Spott der Zuhörer angesichts seiner Naivität aussetzen wollte, beraubte Vian auch jeglicher Geduld für weitere „Entschuldigen-Sie-Geschichten“.

Der Zweifel darüber, die Wahrheit serviert bekommen zu haben, das unangenehme Gefühl, auf die bösartigste Art hereingelegt worden zu sein, nämlich durch einen Angriff auf seine Hilfsbereitschaft, ließen sein Herz versteinern.

Zurecht?

Er würde es nie erfahren, aber zukünftig wollte er lieber sein eigenes Selbstwertgefühl über das seiner Mitmenschen setzen. Es war ja nicht einmal das Geld, um das es ihm leid war, sondern einzig der Ärger, für dumm verkauft worden zu sein, quälte ihn.

Aus dem guten Samariter war in seiner Vorstellung VIAN, die NAIVe Lachnummer geworden.