Ich hatte schon vor einigen Wochen die Idee zu diesem Blogbeitrag. Ob der Zeitpunkt, ihn zu veröffentlichen gut gewählt ist? Ich weiß es nicht, aber im Leben des Einzelnen passiert vieles zur falschen Zeit und genau darum geht es auch hier, um das Leben und das Schicksal jedes Einzelnen:
Unvergessliche Momente aus der Kindheit. Jeder hat sie. Im besten Fall sind es diese verklärten, schönen Bildern von der Familie, die sich rund um den Tisch zum Essen versammelt, die Eltern erzählen Anekdoten aus ihrem Leben und die Kinder können nicht genug bekommen davon. Wieder und wieder wollen sie dieselben Worte, dieselben Phrasen hören, entweder, weil sie sich jedes Mal von Neuem bemühen, die fremden Bilder im eigenen Kopf nachzubauen oder weil sie Stellen daraus so lustig, spannend oder aufregend finden. Binge listening gab es in Wirklichkeit schon lange vor dem digitalen Zeitalter.
Ach, was habe ich gelacht über diese eine Geschichte mit der Katze, die mein Vater uns so oft erzählen musste, weil wir sie ausgesprochen unterhaltsam fanden. Eigentlich war die Begebenheit mit der Katze nur eine Nebensache, aber wir Kinder haben uns darüber zerkugelt. Alle möglichen Dinge rundherum, die ich mir nur vage vorstellen konnte, haben sich ebenfalls im Gedächtnis eingenistet, aber der Running Gag war natürlich die Katze.
Die tote Katze.
Wenn ich heute daran zurückdenke, wie mein Vater mir gegenüber saß und selbst schmunzelte, weil wir lauthals lachten, wenn er erzählte, dann bekomme ich ein ganz beklemmendes Gefühl.
Meine Schwester und ich waren vermutlich nur ein bisschen älter als es meine Kinder jetzt sind. Auch sie verlangen, dieselben Geschichten in Dauerschleife zu hören. Meine Geschichten, die ich erzähle, sind erfunden, die meines Vaters war es – leider – nicht.
An alle Details erinnere ich mich nicht mehr, aber die Geschichte ging in etwa so:
Eines Tages hieß es, dass meine Großmutter, mein Onkel und mein Vater (die beiden waren damals Kinder) innerhalb von Stunden von zu Hause fort müssten. Sie wurden erst in ein Lager gebracht. Dort erlebten sie, wie ein alter Mann, der neben ihnen schlief, alle paar Stunden geweckt und zum Arbeiten geholt wurde. Bis er nicht mehr konnte. Dann stellte man sie selbst unter einen Galgen. Als sie dachten, nun sei alles vorbei, hieß es plötzlich, sie dürften gehen.
Und sie gingen.
Aber der Weg war beschwerlich und gefährlich. Einen Teil ihrer Flucht waren sie in einem Zug unterwegs, der in meiner Vorstellung der schlimmste Bummelzug war, den man sich vorstellen konnte, denn für eine gar nicht so lange Strecke brauchten sie scheinbar ewig. Und jetzt kommt die Stelle, über die ich als Kind so lachen musste:
Ein paar Leute, die auch im Waggon waren, hatten eine tote Katze gefunden und da sie alle hungrig waren, wollten sie die Katze kochen. Bei jedem Halt bemühten sie sich also Feuer zu machen und in einem Topf Wasser zum Kochen zu bringen, doch niemals reichten die Pausen aus und die Katze wurde einfach nicht gar.
Lustig? Wenn ich heute daran denke, bleibt mir das Lachen im Hals stecken – nicht nur weil ich den Verzehr von Katzen (und anderen Tieren) aus ethischen Gründen ablehne.
Das Ende der Geschichte fand ich immer ein bisschen zu ernst und abstrakt: Meine Großmutter konnte sich unter dem Mantel eines Soldaten verstecken, um von anderen Soldaten, die den Zug durchsuchten, nicht gefunden zu werden. Diesen Teil fand ich sehr eigenartig. Erstens war mir nicht klar, was so schlimm daran gewesen wäre, gefunden zu werden und zweitens wollte mir einfach nicht einleuchten, wie man einen ganzen Menschen unter einem Mantel verstecken konnte. Dass man den Mantel dabei vielleicht einfach nicht am Körper trägt, sondern wie eine Decke verwendet, kam mir gar nicht in den Sinn.
Und dann war da noch die Sache mit dem Fußweg bis Wien: Mein Vater wurde so krank, dass er nicht mehr weitergehen konnte. Meine Großmutter bat fremde Leute, bei denen sie vorbeikam, sich um den Buben zu kümmern und ließ ihn dort zurück, während sie mit meinem Onkel weiter marschierte. Erst später holte sie meinen Vater ab.
„Zeitgeschichte„, Familiengeschichte, durch die kindliche Brille: Die Erinnerungen eines Menschen an seine eigene Kindheit im Krieg, und meine Erinnerungen an Erzählungen darüber, die ich als Kind hörte.
Den Begriff „Brünner Todesmarsch“ lernte ich erst vor ein paar Jahren kennen und es schaudert mich, dass wir als Kinder ausgerechnet diese Momente, in denen sich mein Vater uns öffnete und andere Menschen an seinen schlimmsten Traumen teilhaben ließ, nicht begreifen könnend fröhlich verlachten.
Aber vielleicht ist es auch genau das, was Menschen öfter tun sollten: Zuhören, lachen, leben – statt in blindem Hass zu verstummen und zu töten.
Als Kind begreift man die Bedeutung von so etwas nicht. In der Erinnerung,wenn sie geteilt werden kann, überwiegt der Humor oder die Zuversicht. Das habe ich bei den Geschichte n, die mir von Vater oder Tante erzählt wurden, auch bemerkt. Die Geschichte von der jungen Tante, die arglos mit den Soldaten ins Schilf ging, weil die ihr was zeigen wollten, und der Witz, wie ihre Brüder sei da rausholten, nur weil sie ein komisches Gefühl hatten, was sie auch nach 50 Jahren nicht erklären konnten, und wie sie heimkamen, schlammig, zerstochen, verschwitzt und die die Erinnerung an den Sommer, das war die die blieb. Nicht das, was hätte passieren können oder auch vielleicht doch passiert ist. Das hat mich beeindruckt. Das ist Bewältigung von schlimmen Dingen, darüber zu lachen. Das ist das, was überleben möglich macht. Liebe Grüße Katrin
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Meine Oma ist mit meiner Mutter und meinem Onkel im Januar also kurz vor dem todesmarsch aus Brünn geflohen! Auch hier gibt es Geschichten. Sie faszinierten mich als Kind und lassen mich jetzt auch schlucken!
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Gut ist es solche Geschichten zu erzählen und was für ein Glück, dass du als Kind die Tragik der Geschichte nicht erkennen konntest
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Solche Geschichten müssen erzählt werden, heute umso mehr, weil uns der Bezug zu Fluchtgeschichten verloren zu gehen droht. Vielen Dank dafür.
Was das Gute an deiner Geschichte ist: Die n Vater könnte wohl drüber lachen. Ein gutes Zeichen, dass sich solch … unangenehme … Erfahrungen verarbeiten lassen.
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Auf meinem Gymnasium war es Brauch, jedes Jahr Überlebende des zweiten Weltkrieges einzuladen. Das waren jedes Jahr andere, und alle haben auf ganz unterschiedliche Weise gelitten. Das war immer sehr eindringlich. Leider sterben mit den Zeitzeugen auch ihre Geschichten, und die Lehren aus der Geschichte geraten in Vergessenheit. Danke, dass du diese Geschichte erzählt hast.
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Vielleicht vergessen wir alle viel zu schnell und sollten ein Jeder mehr dafür tun, dass sich solche Geschichten nicht wiederholen.
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puh … keine einfache Geschichte, die du heute mit uns teilst! Trotzdem danke, ich bin noch nachdenklich…
herzliche Grüße, Ulli
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oh…
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schluck.
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