Wenn man aus der Großstadt aufs Land zieht, gibt es so einiges woran man sich erst gewöhnen muss. Zum Beispiel an die Absenz von Anonymität. Oder die verzweigten Kommunikationsnetze. Was im urbanen Bereich die digitalen Medien über große Distanzen hinweg in Echtzeit vermögen, sind mitten im (N)irgendwo die informellen Kanäle. Sie sind laut, direkt, nah und vor allem sehr analog.

Nachrichten bahnen sich hier noch ihren Weg durch mündliche Erzählungen, auch bekannt als Dorftratsch: Beim Arzt, beim Friseur, an der Kassa im Geschäft – überall werden Informationen übereinander ausgetauscht, bevorzugt über jene, die gerade abwesend sind, dafür in Anwesenheit möglichst vieler anderer Einwohner. Eine andere Form der Chatgroup sozusagen.

Lange Zeit dachte ich, dass ich als „die Neue“ („die Zugereiste“) auch automatisch die Unbekannte sein würde. Man wusste hier ja (hoffentlich?) nichts über mich. Damit fühlte ich mich auch weiterhin als das anonyme Wesen, die unbemerkte Passantin, als eine unter vielen. Genau genommen: Eine unter ein paar Leuten (an einer Hand abzählbar, weil der Rest tagsüber mit dem Auto das Weite sucht).

Um meine Meinung trotzdem kundzutun und in Ermangelung eines Bioladens ging ich auch gerne mit meiner „Meat is murder“ Tragtasche zum Einkaufen in das einzige Lebensmittelgeschäft im Ort und stand dann dort damit an der Fleischtheke herum.

Ha, stiller Protest, gell?

Vor allem aber höfliches Warten in der Warteschlange, weil es dort nämlich auch das Brot und Gebäck gibt und die Tätigkeit des Bedienens eines Kunden gerne multifunktional genützt wird: Wurst aufschneiden und nebenbei Neuigkeiten austauschen – über das eigene Wohlbefinden und jenes von der halben Einwohnerschaft. So etwas dauert halt und das Wurstaufschneiden muss angesichts der einer Erzählung zugehörigen Gestik natürlich kurz- bis mittelfristig unterbrochen werden.

Man gewöhnt sich irgendwann daran: Im Dorf wird getratscht und eilig haben sollte man es nicht (oder in die nächstgrößere Stadt fahren).

Eines schönen Tages, es war in der Faschingszeit, ging ich wieder einmal ins Geschäft und wartete an der Wursttheke, um den einzigen Laib Kürbiskernbrot zu kaufen. Und da passierte es:

Um mir die Wartezeit zu verkürzen wurden mir ein Glas Sekt und Faschingskrapfen angeboten. Das wäre jetzt noch nicht so überraschend. Aber ich wurde dazu mit Namen angesprochen! Die Geschäftsführerin sagte einfach so, scheinbar ganz selbstverständlich:

Darf ich Ihnen einen Krapfen anbieten oder ein Glas Sekt, Frau Mama?

Rums, fast wäre ich aus den Latschen gekippt (sozusagen). Gut, dass ich mich damals noch an einem Kinderwagen anhalten konnte. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass hier zwar jeder wusste wer ich war (nämlich die Frau von meinem Mann), ich aber (als einzige) keine Ahnung hatte, wer die anderen waren!

Damit hatte meine gefühlte Narrenfreiheit ein jähes Ende.

Ach ja: Wissen ist eine Holschuld.

meatismurder
Das schwarze Schaf im Dorf