In meinem Tagesablauf gibt es ein paar Fixpunkte: Aufstehen, frühstücken, Mittagessen einnehmen (oder etwas diesem Ähnliches im Büro), Abendessen mit der Familie,  Kinder schlafen legen und davor, dazwischen oder danach irgendwann Blogs lesen. Ein gewisses Sammelsurium von Zeilenende(n) gehört zum Beispiel dazu. Tatsächlich sind die Freitagsrezepte dort vermutlich die einzigen, die ich freiwillig lese. Zu Hause wird ja mehr auf gut Glück gekocht, wobei das Glück vor allem darin besteht, ob es dem Nachwuchs auch dann noch schmeckt, wenn es sich nicht um Nudeln, Knödeln oder Kartoffeln handelt.

Neulich schrieb das werte Zeilenende über imaginäre Freunde. Die Sache mit den Rollenspielen wird für mich wohl immer eine fremde Welt bleiben, nicht jedoch das Leben mit einem Charakter, den man zwar meist nur vor seinem inneren Auge sehen kann und niemals wird persönlich (und vor allem physisch in der Realität) treffen, der aber zum ständigen Begleiter im Alltag geworden ist, fast wie ein Familienmitglied.

Ich habe schon seit einiger Zeit überlegt, ob ich euch unseren – nennen wir ihn der Einfachheit halber – Harvey einmal vorstellen soll. Nun kam es zu einer schicksalhaften Wendung in unserem halbimaginierten Zusammenleben, die mich dazu veranlasste, diesen Artikel endlich zu schreiben.

Who de facto is Harvey?

Vor etwa zwei Jahren trat er in unser Leben, als Sohn meiner größeren Tochter (die bekanntlich mittlerweile schon 4 wird). Keine Sorge, es ging alles mit rechten Dingen zu. Er war ein Findelkind.

Sie entdeckte ihn in einem Buch. Seine Mutter heißt zufällig genauso wie sie und – voilá! – mein Mann und ich wurden imaginäre Großeltern.

Harvey hat in seinem jungen Alter aber schon so manches erlebt, wozu andere ein halbes bis ganzes Leben brauchen: Was auch immer wir tun, getan haben oder jemals tun werden, Harvey hat es bereits auch getan.

Er dürfte auf allen Kontinenten zu Hause sein, hat mit mir, meinem Mann und wohl auch schon unseren Eltern gemeinsam die Schulbank gedrückt und scheffelt offenbar Geld wie Heu. Denn alles, was man sich als 4-Jährige so wünschen kann, besitzt er schon oder kauft es sich einfach. Eigentlich ideal für uns Eltern: Wir müssen ihm weder Kleidung noch Spielsachen noch sonst etwas kaufen, weil er ja – genau! – alles schon besitzt, was käuflich in Kindermodengeschäften und Spielzeugläden zu erwerben ist.

Harvey ist also der Wunderwuzi, von dem alle träumen, insbesondere unsere E. Sie kann stundenlang Geschichten von ihm erzählen. Ich wurde sogar schon im Kindergarten auf meinen Paten/Stief(?)sohn angesprochen.

Ja, die Fantasie ist ein mächtiges Ding. Wobei sie so gar nicht dingmäßig ist, sondern völlig unangreifbar, erhaben über alle physischen Einschränkungen und losgelöst von jeglichen physikalischen Gesetzen, sowie den Konzepten von Zeit, Raum und Kausalität.

Die Wendung,

die unser Leben mit Harvey kürzlich nahm, sah folgendermaßen aus:

Bisher sprach unsere E sehr gerne und oft von ihrem Bruder/Freund/Sohn/was-auch-immer-Harvey. Mit der Zeit bekam er sogar eine (mal) große/(mal) kleine Schwester, die zufällig genau so heißt wie E’s kleine Schwester, unsere Z. Und siehe da, in dem Buch ließ sich auch ein Bild finden, auf dem er mit einem Mädchen spielt, das dann selbstverständlich nur seine Schwester Z sein kann.

Und jetzt kommt es:

Z zeigte mir neulich das Buch, deutete erst auf Harvey, sagte erfreut „Harvey“ und dann auf das Mädchen und rief entzückt: „Ich!“. Dem Bild des Mädchens gab sie gleich noch ein Bussi, denn sich selbst hat man ja gewöhnlich recht lieb. Doch damit nicht genug: Danach erzählte sie mir noch, dass sie mit Harvey telefoniert hätte, so wie es die große Schwester eben gerne macht, und demonstrierte es auch gleich an ihrem Kindertelefon.

„Harvey? Hallo! Ich zu Hause!“

Damit ist Harvey nun also wirklich zu einem vollwertigen Familienmitglied geworden – für die ganze Familie. Für E ist er ein ganz wichtiger Teil ihrer Fantasie, für uns Eltern derjenige, für den wir womöglich eines Tages doch noch Geschenke kaufen müssen, denn die Planung seiner Geburtstagsfeier scheint in vollem Gange und würde er nicht ständig seinen Wohnsitz wechseln, könnten wir ihn vielleicht sogar anläßlich seiner Party einmal  besuchen, und für Z ist er offenbar eine Selbstverständlichkeit!

wanderschaft
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, manchmal geht sie sogar auf Wanderschaft