Aristoteles.
Mama-Bloggerinnen wird ja leichtfertig unterstellt, sie würden nur darüber bloggen, dass sie Mütter sind und ständig ihre Befindlichkeiten in die Welt hinaustippen, wobei die Launen zwischen Kaffee-induziert himmelhochjauchzend und Kinder-induziertem Schlafdefizit/Alltagsstressgejammere schwanken können.
Mitnichten.
Das Gejammere kann auch ganz andere Gründe haben, zum Beispiel Aristoteles.
Eine Tragödie ruft Jammern und Schaudern hervor und lässt den Zuseher nach intensivem Durchleben dieser Gefühle gereinigt zurück – nachzulesen in der „Poetik“ des alten Griechen. Wer schon einmal im Sommer im Wiener Burgtheater war, kennt es vielleicht aus eigener Erfahrung: Großes Drama auf der Bühne, Jammern und Schaudern im Publikum – angesichts der kaum klimatisierten Saaltemperatur und der Enge der Sesselreihen (da können sich die Billigflieger fast noch etwas abschauen davon).
Also: Jammern für die Katharsis.
Und wir legen gleich noch ein Schauferl Dramentheorie nach:
Heutzutage kommen die Angebote meist in einem praktischen flat-rate-all-in Paket. Den Wunsch nach Überschaubarkeit und Geschlossenheit hatten auch schon die Bewohner der Antike. Vielleicht dachten die Unterhaltungsanbieter auch damals schon: Bloß den Kunden nicht überfordern, sonst kapiert das geistige Armutschgerl womöglich nicht, worum es geht und kehrt nicht wieder.
Für gelungenes Entertainment bedarf es daher angeblich dreierlei. Nein, nicht Liberté, Egalité und Fraternité, obwohl die auch den angenehmen Teil des Lebens sicherstellen sollen, sondern Einheit von Handlung, Zeit und Ort.
Der Ablauf auf der Bühne bleibt in einem stringenten, konsistenten und beschränktem Rahmen. Alles, was darüber hinaus geht (und notwendig ist, für das Verständnis des Geschehens) kann ja z.B. über einen Botenbericht ohne unmittelbare Darstellung mitgeteilt werden. Die social media Kanäle von damals – nach Luft japsende Läufer, die berichten, was sich auf dem Schlachtfeld zugetragen hat, feine Damen, die über Zäune zum Nachbarn starren und laut vor sich hin sprechen – so etwas in der Art. Hauptsache, man weiß Bescheid darüber, was sich irgendwo anders in der Welt abspielt, woran man nicht im geringsten direkt beteiligt ist. Vielleicht schwingt hier die Lust an der heimlichen Beobachtung mit? Aber durch dieses Schlüsselloch wollen wir jetzt gar nicht schauen.
So, das waren jetzt erst einmal die Einleitung und der erregende Moment. Oder lässt die Kombination aus den Themen Mami-Blogger und Voyeurismus irgend jemanden kalt?
Nun zur Peripetie, dem anzustrebenden Höhepunkt, bevor Spannungsabfall und Lösung durch Katastrophe folgen können. (High five mit den alten Griechen)
Kasperlstücke sind bei unseren Kindern sehr beliebt. Ha! Jetzt habe ich doch noch meine Kinder ins Spiel gebracht, wer hätte damit gerechnet? Diese unerwartete Wendung bekommt den Stempel Wendepunkt und ist damit, anders als in der Mathematik, unbedingt als Extremwert im Verlauf der Geschichte zu werten.
Ertönt der (Kassandra)Ruf nach einem Kasperlabenteuer, läuft mein Mann zur Höchstform auf. Rasch wird ein Thema erdacht, die benötigten Requisiten irgendwo im Haus aufgetrieben (wegräumen darf sie dann die Mama) oder gebastelt (für die spätere, unauffällige Entsorgung ist auch die Mama zuständig) und los geht es, Slapstick-Krokodilverfolgungsjagden inklusive.
Wir schalten zu M.Mamas Kasperlbühne:
3. Akt, Auftritt Fluschi.
Nun muss man wissen, dass Fluschi das Schmusetuch unserer Großen war als sie noch ganz klein war. Schon lange führt er ein etwas zurückgezogenes Leben in einem Faß oder zumindest einer Spielzeugkiste, aber gerade heute möchte Fluschi den Kasperl besuchen. Unterwegs nach Kasperlhausen schläft er auf einer Wiese bei schönstem, warmen Sonnenschein ein.
Auftritt das gefräßige Krokodil.
Es findet Fluschi und frisst ihn.
*Donnerwirbel*
So weit, so geplant.
Ungeplant passierte dann Folgendes: Schreckliches Wehklagen im jungen Publikum, echte Tränen!
Jammern und Schaudern wie aus dem Lehrbuch ✔ und eine Katastrophe zugleich. Katharsis, bitte kommen!
Der Kasperl wird sofort mit einem Arztkoffer losgeschickt, um zusammen mit der Großmutter und dem völlig verzweifelten, noch immer schniefenden Kind dem schlafenden Krokodil den Bauch aufzuschneiden und Fluschi zu befreien.
Operation gelungen, Fluschi befreit!
*Kasperlied, der Vorhang fällt*
Unsere Tochter ging tatsächlich geläutert aus diesem Drama hervor: Fluschi wurde wieder voll in das Kinderzimmerleben reintegriert und – da dem Krokodil offenbar nicht zu trauen ist – am nächsten Tag vorsichtshalber sogar in den Kindergarten mitgenommen. Sicher ist sicher.

Ich habe ja auch ein heimliches Faible für aristotelisch gefärbte Blogbeiträge, du hattest mich also schon mit der Überschrift … Was für ein Drama! Meine Güte, ich kann mir vorstellen, dass es da wirklich kathartisch abgegangen ist. Und das mit der Einheit des Ortes hat die Tochter ja auch gut verstanden: Vom Krokodil wird man nur im Kinderzimmer gefressen. *gg*
Und so ganz nebenbei hast du das Phänomen des Binge-Watching erklärt: Eine Serienstaffel bildet ja auch eine Einheit, deshalb darf man die nicht an mehreren Tagen gucken, sondern muss sich an einem Abend schauen. ^^
LikeGefällt 1 Person
Ah! Danke für die Erklärung bzgl Seriensucht 🙂 Oft ist ja schon die erste Folge als Einstiegsdroge ausreichend, aber verpackt in den klassischen Aspekt hört es sich viel besser an.
LikeLike
Gell? Die erste Folge ist dabei nur die 1. Szene des 1. Akts. ^^
LikeGefällt 1 Person
Mein Gott, man mag sich gar nicht ausmalen wie die Originalszene abgelaufen ist. Naja, besser als dass die Kinder anhand des Schicksals der Titanen lernen wie man seine Eltern behandelt. Titanentheater.
LikeGefällt 2 Personen