Wortgeflumselkritzelkram schreibt jede Woche über ein Buch, das sie gerade liest („Heute lese ich …„) und ich mache mit:


Bei vielen Kinderbüchern, die ich wieder und wieder und wieder vorlesen muss (und oft gleich zweimal hintereinander), freue ich mich insgeheim, wenn das Ende des Buches endlich erreicht ist. Die Geschichten von Conni, Benjamin Blümchen und anderen „Helden“ kleiner Kinder sind die ersten 728 Mal ja noch ganz nett, aber beim 729. Mal reicht es mir dann doch irgendwie. Meiner Tochter allerdings nicht.

Es ist auch in Ordnung, dass sie manche Bücher liebt und nicht genug davon bekommen kann oder ihre anfängliche Begeisterung dafür nach ein paar Wochen plötzlich wieder entdeckt. Aber ich denke dann sehnsüchtig, beim wiederholten Vorlesen, an Geschichten, die nicht ganz so durchschaubar sind und zwangsläufig zu einem unbeschwerten Happy End führen.

Vor kurzem entdeckten wir ein Buch, das mich in mehrfacher Hinsicht beeindruckt hat. Nicht nur, dass die Geschichte alles andere als faserstreichelweich-superharmlos-lustigtrallala ist, nein, sie hat auch ein Ende, das erstaunt. Ob es sich um ein glückliches Ende handelt oder nicht steht meiner Ansicht nach zur Diskussion. Es ist auf jeden Fall ein ungewöhnlich offenes Ende für ein Buch für das Kindergartenalter.

madchen-weit-weg

Das Mädchen von weit weg ist eine Geschichte aus Schweden, geschrieben von Annika Thor, illustriert von Maria Jönsson. Laut Oetinger Verlag geeignet für Kinder ab 4 Jahren.

Ich las E die Geschichte vor und – plötzlich war sie aus!

Ungläubig an dem letzten Blatt herumfingernd, ob da nicht zwei Seiten zusammenkleben würden, rief ich entsetzt aus:

Was?! Das ist das Ende?!

Nachdem ich meine Verwunderung lauthals kundgetan hatte, lasen wir die Geschichte noch einmal und sie traf mich erneut, genauso wie beim ersten Mal, mitten ins Herz.

Auch meine Tochter sorgt sich sehr um das kleine Mädchen, das eines Tages, mitten im kalten Winter, an die Türe der Grauen klopft. Die Graue liebt ihre Einsamkeit und hat auch gar keine Lust ein geselligeres Leben zu führen. Nur dumm, dass da plötzlich ein kleines Kind auf ihrer Türschwelle steht, das kein Dach über dem Kopf und offenbar weder ein Zuhause noch eine Familie hat, die sich um es kümmern könnte.

Sie lässt das Kind herein, bietet ihm sogar warme Milch an, will den ungebetenen Gast aber so schnell als möglich wieder los werden und sagt das auch. Da es draußen jedoch schon dunkel wird, darf das Mädchen schließlich bei ihr übernachten.

Die Graue findet überraschenderweise in sich selbst ein sehr weiches, sorgendes Herz. Ihr erbarmt das Kind, das auf einer Matratze am Boden in der Küche schlafen muss. Am nächsten Tag jedoch sorgt sie vor allem dafür, dass das Mädchen ihr Haus früh wieder verlässt, damit sie selbst zum gewohnten Alltag (ohne andere Menschen) zurückkehren kann. Im Schneetreiben geht das Kind los, ohne konkretes Ziel, ohne Proviant, ganz alleine. Alsbald ist es im Wald und aus dem Blickfeld der Grauen verschwunden.

Die Graue –  deren Wunsch nach Einsamkeit ich trotz aller, an den Tag gelegter Unbarmherzigkeit nachvollziehbar finde – atmet erleichtert auf. Nicht jeder Mensch genießt die Gesellschaft anderer, insbesondere nicht die von wildfremden Menschen. Nicht jeder Mensch möchte zum Wohltäter für andere werden, sondern ist sich selbst der Nächste und will es auch dabei belassen. Die Graue ist also sehr froh, den Eindringling los zu sein. Doch dann bemerkt sie, dass plötzlich nichts mehr so ist, wie es sein soll.

Ja und das Ende, das will ich hier nicht verraten.

Ein Kinderbuch, das definitiv zum Nachdenken und Mitfühlen anregt und sicher nicht nur für Kinder geschrieben wurde, da es ganz große Themen* anreißt, über die man stundenlang diskutieren und philosophieren könnte und die doch manchmal auch ganz konkret in unserem Alltag in Erscheinung treten und Entscheidungen von uns verlangen, deren Konsequenzen uns ein Leben lang begleiten.


* Themenkomplexe wie Waisen/Flüchtlinge/Heimatlose/Kinder, die de facto auf sich allein gestellt sind, weil niemand da ist, der sich um sie kümmern kann; Empathie und Nächstenliebe vs. Egoismus und einem Leben nach den eigenen Vorstellungen zu Lasten des Wohls anderer; unfreiwillige Einsamkeit vs. erwünschte Einsamkeit