Das Bild begleitet mich vermutlich schon mein ganzes Leben, auch wenn es lange Zeit vergessen irgendwo unter anderen, damals wichtigeren Dingen vergraben lag.

Vor ein paar Jahren holte ich es wieder hervor, staubte es ab, rahmte es ein und stellte es an einen ganz besonderen Platz. Dort habe ich es nun immer vor Augen. Dennoch bleiben manche Details darin ungreifbar, wie verborgen, obwohl sie da sind, sein müssen, fühlbar sind.

Schließe ich die Augen, sehe ich alles ganz klar vor mir, öffne ich die Augen stößt sich mein Blick an vergilbten Stellen, Knittern und Unschärfen.

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An sonnigen Tagen mag das Bild mitunter leuchten und auf seine alten Tage mit dem Sonnenschein um die Wette strahlen. Das Lächeln von Mutter und Tochter erfreut das Herz, ihr gemeinsames Lachen ist in Haus und Garten zu hören, gelegentlich sogar bis auf die Straße hinaus und Passanten halten ein, drehen den Kopf zur Seite und suchen nach jenen, die so viel Spaß haben. Entdecken sie uns – oder auch nicht – gehen sie doch bald wieder weiter – mit einem Lächeln auf den Lippen.

Manchmal geschieht das auch an trüben, nebeligen Tagen oder jenen, an denen die Regentropfen ungemütlich gegen die Fensterscheibe prasseln. Tage, an denen man am liebsten zu Hause bleibt, um die Welt rundherum nur aus sicherer Entfernung, getrennt durch Isolierglas, vom Wohnzimmer aus zu beobachten. Dann ist das gemeinsame Zuhause ein Ort der Geborgenheit. Kein Mensch verläuft sich in unsere kleine Straße, aber man weiß, dass auch hinter der dicksten, dunkelsten Wolkendecke die Sonne irgendwann wieder hervorkommen wird.

Zuversicht, Hoffnung.

Und endlich hellt der Tag tatsächlich auf, die Welt strahlt, aber auf dem Bild bleibt das Wesentliche im Schatten, düster, unkennbar, unnahbar, unendlich weit weg. Eine Gewitterfront zieht auf, scheinbar aus dem Nichts, einer unbedeutenden Kleinigkeit heraus. Schon bald entladen sich Blitze mit ungeheurer Kraft und die Donnerschläge sind noch viel weiter zu hören als es das schönste Lachen je sein könnte. Und draußen, vor dem Fenster? Am Himmel ist keine Wolke zu sehen. Kein Windhauch bewegt die Blätter am Baum. Die Spaziergänger ziehen ängstlich die Köpfe ein und laufen weiter, um diesem furchtbaren Ort zu entkommen.

Das sind die schwärzesten Momente. Von ihnen stammen alle die Schrammen und Risse. Die Furchen und Narben.

Das Bild der Mutter-Tochter-Beziehung in meinem Inneren fällt krachend um. Der Rahmen zerbricht, das verblassende Blatt Papier rutscht heraus und wird von den Sturmböen erfasst. Es wirbelt durch die Luft, droht zu zerreißen. Sturzbäche strömen den vorgezeichneten Weg entlang. Es scheint kein sicheres Fortkommen mehr zu geben.  Dann frage ich mich, wohin wir treiben und wie lange wir den Weg noch gemeinsam gehen werden. Ob die Erinnerung an das Bild in mir ausreicht, um die Dunkelheit und das Brausen der schlimmsten Mächte zu überdauern und die Scherben zu einem Ganzen zusammenzufügen, wenn sich die Stürme gelegt haben und die Sonne endlich wieder zaghaft am Horizont erscheint?

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