Das Auswahlverfahren zur Ermittlung des „besonderen Wortes im September 2016“ ist vorüber. Das DBW-Casting ist gelaufen und doch konnte keine finale Entscheidung getroffen werden.
Da die DBW-Auswahlkriterien vollkommen willkürlich sind und einzig und allein von mir nach Belieben erstellt und bei Bedarf abgeändert werden, erkläre ich sie hiermit für nichtexistent.
Bauchgefühl hilft bei der Kür zum DBW allerdings auch nicht, da ja im Anschluss an die Wahl auch noch ein inhaltsvoller Artikel über DBW entstehen soll. Mein Bauch hat mir bislang aber noch keine rühmlichen Dienste geleistet in Bezug auf Blogbeiträge. Ganz im Gegenteil. Die Ideen-Umsetzungen, die ich für recht gelungen, witzig oder zumindest kreativ halte, die versanden oft eher unbemerkt im WordPress-Universum, das sich ganz eindeutig laufend ausdehnt. Jene Beiträge aber, die ich einfach einmal so in die Weiten des Bloggerversums schicke, als Lückenfüller, weil sie mir zu schade sind, um eingepfercht als Entwurf vor sich hin zu darben, die finden oft mehr Resonanz als meine persönlichen Lieblinge.
Aber zurück zum DBW. Die beiden Das-besondere-Wort-Finalisten im September hießen:
„verorten“ vs. „Eingewöhnung“
Bei näherer Untersuchung zeigte sich jedoch, dass ich mich vielleicht gar nicht entscheiden muss. Vielleicht ist es ja kein „entweder – oder“, sondern ein sehr passendes Miteinander.
Beide Worte haben mich dieses Monat jedenfalls beschäftigt. Das erste, weil es an sich ein interessantes Wort ist, das zweite hat meinen Alltag in den letzten Wochen gehörig umgekrempelt.
Verorten
Ein Ort ist normalerweise etwas Gegebenes, ein äußerer Umstand, manchmal ein Unterstand, manchmal mehr ein Zustand (eine Zumutung).
Was passiert nun, wenn dieser Ort ver- wird?
Ver- kommt vor lieben, loren, kommen, suchen, tun und wirren oder auch ankern und dammen. Die letzten beiden lassen auf eine gewisse Nähe zum Wasser schließen, die andere Liste auf bodenständige Beliebigkeit. Ein Ort kann zwar negativ besetzt sein, aber die Vorsilbe ver- verkehrt ihn an sich noch nicht. Mit Wortklauberei komme ich also hier nicht weiter. Ein Blick in den Duden und auf Wikipedia ist schon hilfreicher:
Die Bedeutung des Wortes verorten, das es 2004 erstmals in den Duden schaffte, ist vielfältig – so wie es auch die Orte sind:
Verortung steht allgemein in Geowissenschaften, Astronomie und Navigation für die Bestimmung des Platzes […] in einem Bezugssystem […], in der Soziologie für die Beschreibung der Position von Personen oder Gruppen in einem Gesellschaftssystem […], in der postmodernen Wissenschaftstheorie für die Einordnung einer Theorie in einer übergreifenden Systematik […]
Und nun stelle ich fest, dass die Eingewöhnung im Kindergarten sehr viel mit obiger Definition gemein hat:
Die Eingewöhnung
ist ein Prozess – mit einem Anfang und ein bis mehreren Enden. Meist ein phasenweiser Prozess. Es gibt Fortschritte und Rückschritte. Letztere bevorzugt dann, wenn man sie gerade gar nicht brauchen kann und am wenigsten erwartet. Und es gibt sicherlich wissenschaftliche Betrachtungen und Erkenntnisse darüber, aber am Ende zählt nur, wie es das einzelne Kind meistert und welche Unterstützung durch die Eltern und die Pädagogen es dabei bekommt.
Ein Kind, nennen wir es Z, ist eine Variable im System „Kindergarten„. Die Kindergartengruppe sein Bezugssystem. Im Idealfall gibt es auch ein bis zwei fixe Bezugspersonen. Im Rahmen der Eingewöhnung versucht Z seinen Platz zu finden. Sowohl jenen in der Garderobe, erkennbar einerseits an einem bunten Symbol andererseits einfach an seinen Koordinaten (neben der Tür, unter dem Fenster, gegenüber dem Platz mit dem Bärenturnsackerl etc.) als auch jenen in der Gruppe selbst. Z lernt den Ort, die Regeln des Systems und die anderen Personen mit ihren gesellschaftlichen Funktionen (Kinder spielen, Erwachsene lesen vor usw.) kennen und ist schließlich eingewöhnt und verortet im Kindergarten.
Und die Mama?
Die war während der Eingewöhnung zwar meistens vor Ort, aber nicht unmittelbar greifbar, und fühlte sich statt verortet manchmal eher deplaziert. Sie wurde durch systematische Steigerung der Abwesenheit von der erklärenden Variable („Schau mal, da gibt es schöne Tierbilderbücher! … Das ist ein Zebra und das ein Pinguin„) zum Störterm degradiert. Daher fühlt sie sich ein bisschen postmodern, weil sie so rasch außer Mode gekommen ist: Gerade war sie noch der Mittelpunkt der Welt, schon ist sie vormittags out und Mit-dem-Rucksack-in-den-Kindergarten-Stapfen ist in.
Die Theorie der Eingewöhnung wurde für uns also im September glücklicherweise in der Praxis zum Fallbeispiel für eine gelungene Verortung.
Ich hätte da einen Kandidaten für einen neuen Monat: Entfall.
Ob es sich jetzt um die preußische Version der Apokalypse handelt, oder doch in die Wortfamilie des gemeinen Wasserviehs einzuordnen ist, gilt es herauszuknobeln…
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Gott, es gibt kaum noch Begriffshöfe, und die traditionelle Wortfamilie stirbt aus.
P.S.:
Du Sprachungetüm.
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Du bist bei mir auf jeden Fall unter „ebenso klug wie humorvoll“ verortet, und die Eingewöhnung war reine (Lese-)Freude 😉
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Herzlichen Dank für ein so liebes Kompliment! 🙂
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Hast du doch verdient 😀👍
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