Eines Tages stand er in unserem Büro,
ein neuer Kollege, so alt wie ich.
„Wie ist der wohl so?“
fragten wir uns, fragte ich mich.
Großgewachsen, eine Kämpfernatur.
Schwere Schicksalsschläge in seiner Kindheit hatten ihn nur angespornt, trotzdem weiter zu machen, nicht aufzugeben.
Er nahm schon als Kind sein Schicksal hin und lernte daraus.
Klare Ziele vor Augen, er wollte hoch hinaus.
Doch mit einem Mal war alles anders. Plötzlich ging es ums nackte Überleben.
Krebs, sehr aggressiv. „Vielleicht noch ein Jahr.“
Alle waren erschüttert, nur er blieb wie er war.
So gut wie nie klagte er über die ihn zerfressende Krankheit,
er machte konzentriert seinen Job, sprach nur über die Arbeit.
Seine Weigerung, zu jammern über seine großen Leiden
waren vielleicht Versuche, das Unvermeidliche zu meiden.
Die Statistiken sprachen stumm gegen ihn,
das Jahr verstrich mit OPs und Therapien.
Er verlor Gewicht, und auch sein Haar,
und blieb dabei einfach so, wie er war.
Drei Jahre Kampf, mit vielen Tiefen, seltenen Höh’n.
Selbst die Ärzte staunten, es war fast zu schön.
Doch das Schlachtfeld war sein Körper,
die Spuren des Kampfes nicht mehr zu übersehen,
wie lange wohl würde er diese Qualen noch durchstehen?
Ganz selten nur zeigte er seine Wut über sein grausames Los.
Viel lieber erzählte er mir von seiner Tochter,
seine Vaterliebe war unendlich groß.
Seine stille Verbitterung machte ihn nach außen unheimlich stark, aber sein Herz war weich.
„Nur die Familie ist wichtig. Alles andere ist gleich“,
erinnerte er mich, wenn wir über unsere Kinder sprachen.
Während wir betroffen schauten, konnte er noch immer lachen.
Dann, eines Tages, jede Bewegung fiel ihm schon schwer,
sagte er schließlich „Ich kann nicht mehr“.
In diesem Moment wurde uns schlagartig klar,
nun ist es soweit, das Ende ist nah.
Nie zuvor hatte er im Büro über seine Schmerzen gesprochen.
Jetzt rief er noch von seinem Arbeitsplatz aus einen Arzt an, bat um Hilfe.
Der letzte Damm seines zähen Widerstandes war gebrochen.
Ich starrte auf meinen Computer.
Wie nimmt man Abschied von jemanden, der nach Hause geht, um zu sterben?
Nichts Bekanntes passte,
kein „Wir sehen uns!“, „Alles Gute!“, „Es wird schon werden!“
Ich wusste, Mitleid und Gefühle wollte er nicht, die Krankheit war allein seine Bürde.
Und doch hätte ich ihm gerne gesagt, dass ich sein Andenken in meinem Herzen tragen würde.
Aber die passenden Worte gab es nicht.
Ich war traurig, sprachlos, mied den Blick in sein Gesicht.
Er stand auf, öffnete die Tür, sagte etwas und ging hinaus.
Da war es plötzlich ganz still. Niemand antwortete drauf.
Was hatte er gesagt? Kam er nochmals zurück?
Ich hatte ihn nicht gut verstanden, wandte mich um, mit fragendem Blick.
„Auf Wiedersehen, Kollegen“
hallte es nach in meinem Ohr.
Ich saß auf meinem Platz, erstarrt wie zuvor.
Sein inniger Wunsch, den Schulabschluß seiner Tochter noch zu erleben, wurde ihm nicht mehr gewährt.
Er hatte sie begleitet so lange er konnte, doch der übermächtige Gegner hatte ihn aufgezehrt.
Der ungleiche Kampf endete zu früh.
Die Krankheit siegte, zu Ende war seine unglaubliche Müh.
Zwei Wochen später standen wir an seinem Grab.
Da war noch etwas, das es für mich zu tun gab.
Irgendwann war ich an der Reihe, stand da, für mich allein.
Ich warf eine Blume und ein Schaufelchen Erde hinein:
„Hier trennen sich unsere irdischen Wege.
Auf Wiedersehen, Kollege!“
Sehr eindrücklich geschrieben. Schwierig ist ja gleichsam nur der Anfangsbuchstabe. Ein abgrundtiefes Thema. Und ich denke, es ist wichtig, dass es nicht totgeschwiegen wird. Mich beeindruckt vor allem, wie du hier ein sehr klares Bild schaffst – nicht wortreich zerredend, sondern deutlich andeutend.
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Vielen Dank. Eigentlich sind ja manche Erlebnisse gar nicht adäquat in Worte zu fassen, aber um sie für sich selbst zu verarbeiten, hilft es (mir) zumindest, es zu versuchen
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Manchmal ist einfach nicht die Zeit der Worte. Aber manchmal ist es genau das Richtige, wenn man sich einfach mit Worten herantastet. Auch wenn es nur der Versuch einer Annäherung ist. Wie du sagst, kann es dir bei der Verarbeitung helfen. Und es kann aber auch anderen zumindest eine Ahnung vermitteln. Und das kann dann immerhin ein kleiner Halt in der großen Bodenlosigkeit sein. Selbst wenn man mal einem Menschen gegenüber einfach keine Worte findet – ahnungsvolles Schweigen hat eine ganz andere Qualität als ahnungsloses Schweigen.
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Das hast du sehr schön ausgedrückt. Sprache kann so vieles, sie kann verbinden, verletzen, heilen und trösten, Menschen entzweien, sie ist maechtig und machtlos, und manchmal spricht sie besonders klar und laut, wenn wir schweigen.
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! 🙂
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Furchtbar 😭
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Ja, leider.
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