Für die abc-Etüden von Christiane diesmal mit den Worten von Etüdenerfinder Ludwig Zeidler:
Abfallglück
Verfallsdatum
unschuldig
Eine Jugendstilvilla am Rande von Wien
Sie waren nicht unschuldig an seiner Entwicklung und doch betrachteten sie ihn als den Schandfleck der Familie.
Mit einem fleckigen Buch saß er barfuß, mit seinen verfilzten Dreadlocks im Schneidersitz vor der Heizung. „Abfallglück“ nannte er es, wenn er ein Buch im Müll fand oder ein Sojajoghurt, dessen Verfallsdatum gerade einmal einen Tag überschritten war. Minimalismus, ökologischer Fußabdruck, vegan, Dumpster Diving – diese Reizworte bereitete seinen Eltern mittlerweile physische Schmerzen. „Dummster Diving“ nannte sein Vater den Lebensstil, wobei von Stil bei so einer Art zu leben nicht gesprochen werden konnte.
Doch er wollte die Welt verändern, retten! „Rette lieber dich selbst. Du musst nicht so ein Leben führen!“ redete ihm seine Mutter immer wieder gut zu, aber sein Entschluss stand fest: Er hatte seinen Weg gefunden.
Eine 55 Quadratmeter Wohnung am Gürtel in Wien
Sie waren nicht unschuldig an seiner Entwicklung und doch doch fühlten sie sich im Recht, denn als Erwachsene konnten sie tun was sie wollten: Mein Geld – mein Rausch.
Mit einem fleckigen T-shirt lehnte er halb schlafend im Eck seines Zimmers. „Abfallglück“ nannte er es, wenn er eine fast volle Dose Bier im Müll fand oder eine stehengelassene Flasche Wodka am Sonntagmorgen vor den Szenelokalen. Manchmal stahl er auch etwas. Sein Fingerabdruck war längst bei der Polizei archiviert.
Saufen bis zum Umfallen. Unter diesem Motto startete jeden Freitagabend ein Trinkgelage in der vermüllten Wohnung. Die Eltern waren am Wochenende genauso sturzbetrunken wie ihr jugendlicher Sohn.
Das Essen im Kühlschrank vergammelte, aber mit 2 Promille und mehr war das Ablaufdatum unwichtig, wenn man Hunger hatte.
„Du musst nicht so ein Leben führen!“ redete ihm die Vertrauenslehrerin immer wieder gut zu und er nahm sich danach vor, nach dem nächsten Mal aufzuhören.
Seine Vorsätze wurden jede Woche wieder im Klo hinuntergespült, zusammen mit der ganzen Kotze.
Eindeutig – mitten aus dem Leben und sehr gut geschrieben!
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Danke!
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Sau stark!
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Dankeschön!
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Nachdenklich …..
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O ha! da hast du wirklich eine starke zwei-in-eins-Geschichte zustandegebracht. Durch die doppelte Projektion auf zwei sehr verschiedene familiäre Milieus wird die ganze Latte von Fragen bezüglich Selbstbestimmung und Sozialisation aufgerissen. Klasse!
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Danke!
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Krass. Gefällt mir sehr, deine 2-in-1-Geschichte, in der die Protagonisten vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit haben, aber unterschiedlicher nicht sein könnten, genau wie deren Motivation und die Definition von Glück …
Nachdenkliche Grüße
Christiane
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Puh – heftig. Und gut!
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