Wien hat viele Gesichter. Morgens vor 8 ein anderes als abends. Immerhin das haben die Stadt und ich gemeinsam.
Vor 8 Uhr gibt es nur schweigendes Geschiebe. Raus aus dem Zug, die Treppen hinunter. Direkt vor dem Zeichen „Rauchen verboten“ hockt einer am Bahnhof und raucht. Ignorant unter Ignoranten. In den Geschäftslokalen, hinter halb geöffneten Türen, werden Waren eingeräumt. Stille Geschäftigkeit, geübte Handgriffe, stumme Blicke. Kein Aufkleber für die Öffnungszeiten. Statt Türen nur noch Glasfronten.
Blinde Transparenz. Alle sehen dich, keiner sagt etwas. Endlich das klärende: „Noch geschlossen“. Warum nicht gleich? Glotzen ist billiger. Billig ist gut, ein ungesundes Credo unserer Zeit.
Ein übergewichtiger Bettler sitzt am Ende der Stiegen, das Schild „Ich habe Hunger“ vor dem gewölbten Bauch. Schlangen vor den Fress-, Verzeihung, Imbissständen ringsum.
„Jetzt is hocknstad, die först Ledi!“ sagt mir ein Wiener mit süffisantem Grinsen. Ich habe nicht gefragt, er wollte es mich trotzdem wissen lassen. Die Titelzeile seiner Gratiszeitung hatte es mir schon verraten, als ich vorbeiging. Heute besser etwas weiter vorne auf die U-Bahn warten. Ungefragt Mitteilungsbedürftige sind mir suspekt. Blogger teilen sich gerne ungefragt mit. Sollte mir das zu denken geben? Für Selbstkritik ist es am Tag noch zu früh und im Leben schon bald zu spät. Also nur eine Feststellung: Blogger sind die komischen Käuze der digitalen Welt.
Hocknstad, was für ein Wort. Klingt seltsam auf den ersten Blick. Doch Blicke klingen nicht, sie erheben oder senken sich, weichen aus, besonders in der Großstadt. Augen zu und durch. Auch in der Hocknstad gibt es das. Herumhocken, weil man keine Arbeit hat, keine findet, manchmal nicht einmal mehr eine will. Doch mit dem Kauern hat es gar nicht so viel zu tun. Mit der Hacke (Hockn), dem Beil, schon. Letztere schwingt man schweißtreibend zum Wohlstand der Gesellschaft. Seinen Arbeitsbeitrag leisten mit der eigenen Hockn. Das tun die Fleißigen, besonders die Henker. Die Henkersmahlzeit bekommt ein anderer. Irgendwie seltsam.
Die, die hocknstad sind, können sich oft noch so abgfrettn (plagen), sie bleiben hocknstad und bilden schon fast einen eigenen Stand. Ständestaat? Lange ist es her, seit stati im Deutschen „ohne“ hieß. Ohne Hockn (also Arbeit) sein, da muss man erst einmal schlucken und wird still. Geschluckt wird überhaupt desto mehr, je mehr Zeit man hat, Selbst die Wiener Tschecheranten anglisieren heute gerne.
Wer ist also die first lady in Österreich? Statt der FLOTUS (first lady of the United States) könnten wir uns einer FLOA rühmen. FLOA? Boah! Der POA mit seiner FLOA. Dem Akronymwahn sei Dank. Doch eigentlich konnten es die alten Habsburger auch schon. In Österreich steht A.E.I.O.U. für mehr als nur die Vokale im Alphabet.
Womit wir beim Familiensilber angekommen wären. Edelmetall aus den Kolonien. Tu felix Austria! Vor dem Agententum des Dritten-Mann-Ru(h)mmels führte das Argentum zu wilden Verfolgungsjagden. Argyrie aber ist nicht die Gier nach Silber. Oder doch ihr trauriges Ergebnis?
Ein Blauer läuft zur U-Bahn. Gesinnungsmäßig tun das wahrscheinlich viele. Seine Haut aber glänzt wahrhaftig blau-silbern. Ein Alien? Ein Schauspieler? Ich glotze. Glotzen kostet ja nichts. „Bitte zurückbleiben!“ hieß es eine Zeit lang bei den Wiener Linien. Politisch zu inkorrekt oder vielleicht zu zutreffend? Die Zurückgebliebenen haben meistens das Nachsehen. Wer die U-Bahn versäumt, kann ihr auch nur noch nachschauen. „Steigen sie nicht mehr ein“ tönt es neutral aus dem Lautsprecher, der Blau-Silberne springt in den Waggon.
Eine Radrikscha fährt an mir vorbei. Ich kann das seltsam verfärbte Gesicht nicht mehr aus dem Kopf bekommen.