Ein ganzes Monat lang bereitete er sich akribisch darauf vor, stand pünktlich um 5 Uhr auf, zog die Kleidung an, die ihm seine Mutter am Vortag zurecht gelegt hatte, ging in die Küche, goss die Milch auf das trockene Müsli in der Schüssel, die seine Mutter schon am Vorabend auf den Tisch gestellt hatte, putzte sich um 5 Uhr 15 die Zähne und machte sich um Punkt 5 Uhr 30 auf den Weg zum Zug.
Sein Vater hielt es für äußerst fragwürdig, ob er die Lehrstelle im September wirklich behalten würde, aber seine Mutter glaubte an ihn und freute sich über jede geschaffte Übungsfahrt.
Dann war es soweit und er stand, wie er es geübt hatte, pünktlich auf, zog sich an, frühstückte, wusch und kämmte sich und begab sich in die Stadt.
So oft war er jetzt schon vor dem großen, gelben Haus gestanden und hatte hinauf gesehen zu dem Fenster im fünften Stock, rechts über der gläsernen Drehtür, doch erst heute betrat er das Gebäude zum ersten Mal alleine.
Zum Vorstellungsgespräch war er zusammen mit seiner Mutter gekommen.
Er wandte sich nach links zum Stiegenhaus, doch die Türe war mit zwei gekreuzten Wasserwaagen versperrt und auf einem handgeschriebenen Zettel stand „Nicht betreten. Malerarbeiten“
Erst starrte er ungläubig auf den Zettel, dann auf die Glastür, hinter der das nun unerreichbar gewordene Stiegenhaus schon sehen konnte und zuletzt auf den kleinen Aufzug daneben, vor dem viele Leute schweigend warteten.
„Bling!“ die Lifttüre ging auf und alle drängten in die enge Kabine, nur er blieb zitternd wie Espenlaub stehen, denn er war sein ganzes Leben noch nie mit einem Aufzug gefahren.
„Kommst du mit?“ fragte eine dickere Dame freundlich und hielt ihre fleischige Hand über den Lichtschranken.
Leichenblass stand er da, schüttelte ganz langsam den Kopf und sagte fast unhörbar: „Ich muss gehen„.
Ob der junge Bursche den entscheidenden Schritt letztendlich gewagt hat, um pünktlich oder zumindest irgendwann an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen?
Das überlasse ich eurer Fantasie.
Die drei Schlüsselworte stammen von Red Skies Over Paradise und das ganze war eine Kleinstgeschichte im Rahmen der abc-Etüden von Christiane. Illustration von ludwigzeidler.de.
Traurig. So brav geübt, und dann das Unvorhergesehene. Damit können manche Menschen nicht umgehen. ich hoffe, es gibt hilfreiche Hände auch für die nächsten Schritte.
Übrigens: sagt man in Österreich das Monat?
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Bei uns sagen manche das und andere der Monat. Ich habe es von der auf das umgebessert, weil es dann für mich vertrauter klingt 🙂
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Oh. Spontan würde ich sagen: schlechte Prognose. Jemand, der so zwanghaft erscheint …
Bedenkenswertes Szenario, vielen Dank dafür!
Liebe Grüße
Christiane
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Fein, ich mag besonders das Ende mit diesem mehrdeutigen Satz. Und wenn man das Helikopter-Eltern-Phänomen kennt ist das vielleicht auch alles gar nicht so weit von der Realität weg.
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