Sie betritt den Waggon. Die Ruhe in der Stimme und die Worte passen nicht zusammen: „Ich könnte explodieren. Ich bin so wütend.“ sagt sie. Dabei klingt sie ganz ruhig. Nicht nur ich schaue auf, um zu sehen, wer da so emotionslos seine Wut zum Ausdruck bringt. Auch andere im Waggon blicken kurz zur Türe. Eine junge Frau mit Handy am Ohr setzt sich neben mich. Ich überlege kurz, ob eine kurze Belehrung meinerseits sinnvoll wäre. Wenn man sich schon aufregt, dann muss man das auch in der Stimme hören. Das Gespräch klingt ja mehr nach einem vorgelesenen Chatprotokoll: „Tränen lachender Smiley, Tränen lachender Smiley, Tränen lachender Smiley. ROFL.“ Niemand sagt das so. Das Lachen, das Wüten muss man doch fühlen!
Es nimmt mich immer wieder Wunder, dass besonders junge Leute sehr modulationslos sprechen. Kein Heben und Senken der Stimme. Immer nur ein monotones Geschnattere, dem ich schwer folgen kann, weil die Ankerpunkte fehlen. Sprechen ohne Punkt und Komma im wahrsten Sinne. Sogar im Radio hört man solche Litaneien, denen man kaum folgen kann bereits. Moderatoren ohne Sprechausbildung. Ein Ohrengraus.
Kurze Pausen zwischen Sätzen. Hörbare Punkte sozusagen. Bei Fragen muss die Stimme am Ende hinaufgehen. Und erst bei Ausrufen. Es hätte also „Ich könnte explodieren – RUFZEICHEN! Ich bin so wütend – RUFZEICHEN!“ heißen müssen. Mit etwas Theatralik und einem nachgeschobenen „Aaaaaarg!“ oder „Aaaaaaah!“ hintendran.
Aber es wird noch schlimmer. Die junge Frau ist also so wütend, dass sie zerspringen könnte und sitzt nun ganz ruhig neben mir und redet ins Telefon hinein:
„Entschuldige, ich muss mich nur bei jemanden ausweinen.“
Keine Träne, keine hysterische Stimme. Nichts. Ich selbst fühle mich äußerst angespannt, spüre wie Wut und Selbstmitleid klingen müssten und vermisse hier eine Ebene der Kommunikation, die sogar am Telefon wichtig ist. Wenn man sich schon nicht sieht, muss man doch hören, was emotional los ist. Aber ich bin ja gar nicht die, die angesprochen wird. Also tue ich so, als hörte ich nichts. Natürlich höre ich alles mit. Geht ja gar nicht anders. Ich lausche sogar. Neugierig wie ich bin und da es als Sitznachbarin nun einmal unmöglich ist, nicht mitzuhören.
„Gestern habe ich sogar die Polizei gerufen.“ sagt sie.
Jetzt hat sie wirklich meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Polizei? Wieso? Die ruft man nicht aus Spaß. Ich starre auf mein Handydisplay, aber gefühlt sitze ich gerade im Kino und warte ungeduldig auf die Auflösung. Aber was ist das?! Das gibt es doch nicht! Die Frau erklärt nichts weiter. Sie sagt nur:
„Und was gibt es bei dir?“
Das kann doch nicht wahr sein! Wen interessiert denn jetzt bitte, was es bei dem unbekannten, ohnedies nicht hörbaren Gesprächspartner gibt?! Niemand will das jetzt wissen!
Wir – Mitlauschenden – erfahren es auch nicht. Genauso wenig wie den Grund dafür, warum sie die Polizei rufen musste. Tagelang denke ich noch darüber nach, welcher Satz eigentlich hätte folgen müssen, welche Geschichte dem ganzen vorausgegangen ist, warum denn nun die Polizei gestern ausrücken musste oder vielleicht auch nicht rechtzeitig gekommen ist.
Die Frau aber verliert darüber kein Wort mehr.
Meine Kinder sind schon lange bzw. gerade im youtube Alter und dort kriegen sie das so vorgelebt. Vorgetragen. Vielleicht ist Fernsehen doch nicht sooo schlecht.
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Sehr geile Geschichte sehr geil geschrieben! Wahres Leben in kurz…
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Ich war vor kurzem in einer sehr angespannten hysterischen Stimmung, in der ich mit einigen Leuten telefoniert habe. Zuhause. Da ich hier leider davon ausgehen muss, dass nicht nur Gehtmichnichtsan mithört, sondern Feind, war meine Tonlage sicher auch nicht so ganz enthemmt, wie ich mich gefühlt habe. Wäre ich jetzt in der Öffentlichkeit gewesen, wäre ich noch mehr runtergeregelt geklungen. Es gibt Situationen, da MUSS man telefonieren. sonst explodiert man oder implodiert man, oder rastet sonstwie aus.
Ich finde, solche Zustände gehen niemanden was an. Ich weiß jetzt nicht, ob deine Telefonierende so grobgestrickt war, dass sie telefoniert hat, obwohl sie nicht unbedingt hätte telefonieren müssen – also unbeteiligt zuhörenden Unerhörtes zugemutet hat. Im Zweifelsfall gehe ich davon aus, dass es mich nichts angeht.
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Natürlich geht es mich eigentlich nichts an, aber wenn man in der Öffentlichkeit ( in einem stillen Waggon) telefoniert, ist auch klar, dass man die Leute rundum zum Mithören zwingt und natürlich mache ich mir Gedanken darüber, was man da so zu hören bekommt.
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Also mich interessiert das schon … Gabs jetzt Chili sin Carne oder gefüllte Gurken? 😉
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„weil die Ankerpunkte fehlen“, „modulationsloses Sprechen“ – gut gesagt! Finde ich auch schwer erträglich, zumal seit ich schwerhörig geworden bin.
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Spannend und fies zugleich…vielleicht steigt die junge Frau nochmal zu? 🙂
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