Tante Tex hat einen Story-Samstag ins Leben gerufen. Die Deadline läuft in ein paar Stunden ab, aber folgende Geschichte schwirrt mir schon seit zwei Wochen im Kopf herum und hat nun endlich ihren Weg heraus gefunden.

Ich möchte nicht sagen „Viel Vergnügen beim Lesen“, weil die Story dank des vorgegebenen Themas nicht so vergnüglich ist. Stattdessen wünsche ich einen schönen Wochenendbeginn und freue mich schon auf das nächste Thema von Tante Tex.


Das Monster im Wasser

Es war heiß und stickig im Auto, weil die Mutter nicht erlaubte, dass die Klimaanlage eingeschaltet wurde. Auch die Fenster durften immer nur ganz kurz geöffnet werden, damit es nicht „zu viel zog“. Die Mutter schwitzte lieber und alle schwitzten mit.

Die Fahrt dauerte lange. Alle waren froh, als sie endlich am See ankamen. Sie stiegen erschöpft und mit schlechter Laune aus dem Auto.

Die Kinder liefen sofort zum Seeufer hinunter, zogen sich die Schuhe aus und wateten durch das kalte Wasser des Bergsees. Die Rufe ihrer Mutter, beim Ausräumen des Kofferraums behilflich zu sein, ignorierten sie einfach. Nach so vielen Stunden auf engem Raum und unter ständiger Kontrolle wollten sie jetzt einfach nur spielen. Lächelnd winkten sie ihren Eltern und taten so, als könnten sie sie nicht hören.

Während der Vater alleine anfing, das Gepäck bis zur Türe der Hütte zu tragen, schaute sich die Mutter nach dem Vermieter um. Vor zwei Stunden schon hätten sie ihn hier treffen sollen, aber der Urlauberverkehr und die Sommerbaustellen hatten Zeit gekostet. Es dämmerte bereits.

Sie ging suchend um die Hütte herum. Auf der Rückseite führte ein kleiner Weg in den Wald hinein. Sie machte ein paar Schritte auf dem knirschenden Kies, drehte dann aber wieder um. Plötzlich hörte sie eine Stimme hinter sich:

„Hallo! Ah, da sind sie ja endlich!“

Ein Mann kam aus der schattigen Dunkelheit des Waldes auf sie zu, die rechte Hand bereits weit ausgestreckt, um ihre sogleich zu ergreifen und kräftig zu schütteln.

„Es freut mich, dass sie doch noch hergefunden haben.“

– „Ja, entschuldigen sie bitte die Verspätung, aber der Stau und …“

stammelte sie und zog ihre Hand, die er noch immer festhielt, langsam zurück.

„Dann zeige ich ihnen jetzt rasch alles, damit sie sich ausruhen können“

Er ging voraus zum Eingang der Hütte, neben dem eine kleine hölzerne Bank stand, und fing an, einen großen Schlüsselbund nach dem passenden Schlüssel zu durchsuchen.

Der Vater schleppte eben den letzten Koffer und eine Sporttasche zur Hütte. Schnaufend stellte er beides ab und wollte dem Vermieter ebenfalls die Hand reichen. Der sah jedoch nur kurz auf, nickte kurz und widmete sich dann wieder seinem Schlüsselbund:

„Ich habe es gleich … Ah, das ist der richtige!“

Mit seinen fleischigen Fingern fädelte er den rostigen Schlüssel aus dem Metallring und sperrte die Holztüre auf. Drinnen war es dunkel, kühl und roch ein wenig modrig.

Eine knappe halbe Stunde später verabschiedete sich der Vermieter. Die Kinder kamen gerade vom See herauf.

Vor der Hütte blieb er kurz stehen und legte seine Hände sanft auf die Schultern der Kinder. Dabei beugte er sich tief zu ihnen hinunter. Grinsend und scheinbar aufmunternd meinte er:

„Dann genießt mal eure Ferien. Eine so schöne, unschuldige Zeit kommt nie wieder!“

Im Gehen fügte er noch geheimnisvoll hinzu:

„Und nachts haltet euch vom Wasser fern. Sonst holt euch noch das Monster!“

Mit einem breiten Grinsen schritt er Richtung Wald und war gleich darauf aus ihrem Blickfeld verschwunden. Die Kinder sahen ihm erschrocken nach.

„Glaubst du, dass es hier Monster gibt“

fragte das Mädchen ihren älteren Bruder ängstlich.

Zögerlich antwortete der:

„Nein, das ist nur Quatsch. Der will uns nur Angst mache. Monster im Wasser gibt es nur in Schottland. Da gibt es die Nessie, aber alles andere ist Blödsinn!“

Dann liefen sie in die Hütte zu ihren Eltern. Die Mutter war dabei ein Abendessen auf dem altmodischen Herd zuzubereiten, der Vater deckte den Tisch. Hungrig setzten sie sich auf die hölzernen Stühle und konnten es kaum erwarten, endlich ein Nachtmahl zu bekommen.

Nachdem sie gegessen hatten, wollten alle vier noch einmal ins Freie gehen, um den lauen Sommerabend zu genießen. Es war eine Vollmondnacht. Die weiß leuchtende Scheibe am Himmel wurde zwar gelegentlich von vorüberziehenden Wolkenfeldern verdeckt, aber es war sehr hell und die Temperatur hier oben um diese Zeit deutlich kühler als untertags. Obwohl es keine künstliche Beleuchtung außerhalb der Hütte gab, konnte man den Weg hinunter bis ans Ufer gut sehen und die Reflexionen des Mondlichts ließen das Wasser glitzern. Die Kinder liefen noch einmal zum See, Mutter und Vater setzen sich auf die kleine Bank.

Ab und zu jagte eine Fledermaus im Tiefflug über die Wasseroberfläche. Das Zirpen von Grillen, ein untrügliches Zeichen des Sommers, umgab sie. Statt Straßenlärm und unfreiwillig mitangehörten Telefonaten in überfüllten Bussen und U-Bahnen hörte man hier nur die Natur. Der Urlaubstag schien trotz aller Anreisestrapazen in diesem Moment perfekt. Dieses Fleckchen Erde schien eine Wohltat für die Seele zu sein.

Eine kühle Brise kam auf und die Mutter beschloss, schlafen zu gehen. Der Vater meinte, er hole sich nur eine dünne Jacke aus der Hütte. Der Bub und das Mädchen standen am Wasser und beobachteten das Funkeln und Glitzern auf den sanften Wellen. Plötzlich zuckte das Mädchen zusammen. Über seinem eigenen Spiegelbild im Wasser war ein dunkler Schatten aufgetaucht. Ein Gesicht schaute ihr aus dem Wasser entgegen!

Sie stieß einen spitzen Schrei aus und taumelte ein paar Schritte zurück. Dabei stolperte sie fast, da unmittelbar hinter ihr ein Mann stand. Sein Gesicht hatte sich im Wasser über ihrem gespiegelt, als er an die beiden herangetreten war. Auch der Bub schrie auf als er des Fremden gewahr wurde. Die Eltern bemerkten nichts von alledem. Sie waren beide in der Hütte.

„Ach sie sind es!“

sagte das Mädchen erleichtert, als sie in dem Mann den Vermieter wieder erkannte.

„Sie haben uns vielleicht einen Schrecken eingeja…“

Sie konnte nicht zu Ende sprechen, da sie der Vermieter mit strenger Miene anherrschte:

„Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr euch vom Monster im Wasser fernhalten sollt?“

– „Aber es gibt doch gar keine Monster im Wa…“

Der Bub spürte noch, wie ihm ein feuchtes Tuch auf den Mund gepresst wurde, das Mädchen wie sich fleischige Finger fest um ihren Oberarm schlossen.

Als der Vater mit einer Weste und einer Tasse Tee, die er sich noch schnell gebrüht hatte, wieder aus der Hütte trat, war es ganz still. Nicht einmal die  Grillen waren zu hören. Der See lag ruhig da und keine Menschenseele war zu sehen –

auch die Kinder waren verschwunden.