Es ist fast schon wieder Samstag. Zeit für eine Erscheinung (oder auch mehrere) und vor allem Tante Tex Story Samstag. Diesmal war die Aufgabenstellung, ein Bild zu interpretieren, seine Geschichte zu finden, zu ergründen, zu erzählen. So sehr mich dieser Wald mit seinen Erscheinungen sofort gepackt hat, so schwer war es doch, sich in seinem  Dickicht zurechtzufinden, bis ich eines Morgens aufwachte …

Heute

Ich öffnete die Augen. Über mir war blauer Himmel. Ich blinzelte geblendet.

Ach ja, die Waldlichtung“

dachte ich. Irgendetwas hatte gerade meinen Arm berührt und mich geweckt. Ruckartig setzte ich mich auf und wollte das Etwas wegwischen, aber es war keine Mücke oder Fliege. Ein Schmetterling saß auf mir! Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Das Tier blieb ruhig sitzen. Seine Flügel waren geschlossen. Ich konnte jedes einzelne seiner zarten Beine auf meiner Haut spüren. Es kitzelte.

Während ich den flüchtigen Gast vorsichtig betrachtete, öffnete er seine Flügel und zeigte eine wunderschöne, regenbogenfarbene Zeichnung.

Was bist du?

flüsterte ich sanft und überlegte, ob ich einen solchen Schmetterling schon einmal gesehen hatte. Nein. Ich war mir sicher, das war ein ganz besonderes Exemplar.

Das Schauspiel dauerte nur kurz, dann erhob sich der Schmetterling und flog davon. Und mit seinem ersten Flügelschlag fiel mir auch alles wieder ein …

Gestern

… hatte ich den längst überfälligen Schlußstrich unter meinem alten Leben gezogen:

Wütend hatte ich meine Tasche gepackt und war aus der Wohnung gestapft. Mit einem lauten Knall hatte ich die Türe hinter mir zugeschlagen. Große Momente erfordern eine gewisse Theatralik. Das Weinen der Kinder war lange und weithin zu hören. Auch jetzt schien es wieder da zu sein. Hier, mitten im Nichts, obwohl ich doch alleine war, ganz alleine. Das Weinen hatte sich festgesetzt in meinem Gehörgang und es hatte sich mir ins Herz gefressen.

Ich presste die Hände auf meine Ohren. Wenn ich einen völligen Neubeginn wollte, war das der einzige Weg – hier, mitten im Nichts. Ich, alleine, ganz alleine. Das redete ich mir zumindest ein.

Die Ängste, die Sorgen, meine Trauer versuchte ich hinunter zu schlucken, aber ich fühlte mich sehr schlecht.

Und dann war da endlich wieder etwas, an das ich mich klammern konnte. Ich fühlte mich als Opfer. Ein Opfer meiner eigenen Sturheit. Beides war schon immer ein Teil von mir gewesen. So weit ich mich zurück erinnern konnte, gab es diesen roten Faden: Das Gefühl benachteiligt, ausgenützt, übergangen worden zu sein. Und noch einen: meine Reaktion darauf – Selbstmitleid. Das Ganze verwoben zu einem (Spinnen)Netz, in dem ich mich verfangen hatte, das ich nicht verlassen konnte – aus Sturheit.

Nur um recht zu behalten, war ich diesmal tatsächlich davon gelaufen. So oft hatte ich schon damit gedroht, es dann aber doch nicht gemacht, hatte wieder umgedreht, wieder alles ausgepackt. Und im Nachhinein mich jedes Mal geärgert. Worüber eigentlich? Darüber, dass ich so aufbrausend überreagiert hatte? Oder darüber, dass ich inkonsequenterweise zu Hause bei meiner Familie geblieben war? War das nicht meine Pflicht?

Auch die Pflicht zog sich durch mein Leben. Und dadurch blieb immer alles beim alten. Derselbe alte Trott. Aber jetzt würde es anders werden! Ich musste endlich an mich denken.

Ich sah mich um. Rundherum nur Bäume, Farne, grün, grün, grün so weit das Auge reichte. Ich ließ die Arme sinken. Da hörte ich ganz deutlich eine Stimme.

Mama! Mama!“

Nervös griff ich nach meiner Sporttasche. Sie war offen. Ich wühlte darin. Ein Foto meiner Kinder fiel heraus. Wo war nur mein … Da erst erinnerte ich mich, dass ich weder Telefon noch Geldtasche mitgenommen hatte. Ich hatte wirklich alles hinter mir lassen wollen.

Ein klarer Schnitt.

Eine ausgesprochen dumme Idee!

Aus Sturheit hatte ich noch nicht einmal das Auto genommen. Es gehörte ja nicht mir. Weit war ich gestern aber nicht mehr gekommen und bei beginnender Dämmerung hatte ich panisch nach einem Schlafplatz gesucht. Im Freien zu schlafen war eigentlich so gar nicht meine Sache. Raubtiere gab es hier aber wohl keine. Wildschweine und Spinnen musste ich fürchten. Die einen nur vorsichtshalber und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, die anderen umso mehr, aber nicht aus rationalen Gründen.

Die erste Nacht habe ich schon überstanden“

dachte ich für mich. Kurz flackerte so etwas wie Stolz in mir auf. Der Schmetterling tauchte wieder auf und ließ sich auf einem Farn vor mir nieder. Und mit ihm legte sich die Verzagtheit über mein Gemüt. Ich hatte keinen wirklichen Plan, war ohne Essen und Geld unterwegs und wollte eigentlich nur heulend meiner Familie in die Arme fallen.

Mama!

Da war wieder dieser Ruf. Die Stimme klang vertraut und doch fremd. Wo kam sie her? Noch einmal sah ich mich um. Ich konnte niemanden entdecken.

Und morgen?

Mama, bitte! Sprich doch mit mir!

Langsam bekam ich Angst.

Wo bist du?

fragte ich schließlich mit belegter Stimme und drehte mich nach allen Seiten um.

Hier, Mama. Hier bin ich!

Es kam ganz aus der Nähe. Vor mir bewegte sich etwas im Gras. Es war unsichtbar, nur eine Kontur, ein durchsichtiger Körper. Der Körper einer Frau. Vor Schreck taumelte ich ein paar Schritte zurück.

Mama. Da bist du ja endlich. Ich habe schon so lange auf dich gewartet.

Für einen kurzen Augenblick dachte ich an billig produzierte Science Fiction Serien aus den 60er und 70er Jahren. Special Effects, die eher peinlich als beeindruckend waren und weniger den Schein  des Weltfernen transportierten als die Absurdität unserer Vorstellung über das Weltferne.

Wer bist du?

flüsterte ich und meine Stimme versagte mir. Ich zitterte am ganzen Körper vor Aufregung.

Ich bin es doch!

kam die Antwort. Ein Lächeln schwang darin mit.

Aber … aber … ich verstehe nicht …„stammelte ich.

Mama. Ich habe so lange auf dich gewartet. Warum bist du von uns weggegangen?

Was war das nur? Meine Tochter, eine erwachsene Frau? Wann waren die Jahre vergangen? Ich hatte doch nur eine Nacht hier geschlafen?

Tränen liefen mir über das Gesicht. Unbewußt schüttelte ich ununterbrochen den Kopf. Das war alles absurd. Das konnte nicht sein.

Das Wesen redete auf mich ein. Ich musste schmunzeln. Mein Schatz, eine Plaudertasche.

Sollte ich vor diesem Spuk – anders konnte man das nicht nennen – davonlaufen? Noch während ich mit mir selbst kämpfte, sah ich aus den Augenwinkeln ein weiteres dieser Wesen erscheinen. Ein Stückchen weiter weg, neben mir. Die zweite Stimme, die nun ertönte, war viel tiefer und ich erkannte sie sofort. Es war meine eigene Stimme!

So eine Zukunft habe ich nicht verdient. Du verdirbst mir alles!“

Mein junges Ich beschimpfte mich wütend und enttäuscht zugleich.

Aus dem Stimmengewirr erklang plötzlich noch eine dritte Stimme, die mir auch so vertraut war, wie es nur eine Stimme sein kann – die Stimme (m)einer Mutter.

Ich stand drei Generationen meiner Familie gegenüber und verstand kein einziges Wort. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart redeten alle durcheinander. Auf mich achteten sie bald nicht mehr. Also nahm ich leise meine Tasche, hängte sie mir über die Schulter, griff nach dem Foto meiner Kinder und machte mich auf die Suche nach einem Weg hinaus aus diesem sonderbaren Wald.