Von nun an werde ich unser Vorzimmer lieber Vestibül nennen. Das klingt einfach viel toller und wenn ich dann brülle: „Habe ich nicht gesagt, ihr sollt die dreckigen Stiefel im Vestibül ausziehen und nicht damit durch die ganze Wohnung latschen!“ und den Putzeimer schwinge, dann hat das schon fast etwas Ballerinahaftes an sich. *hust*

In Wien gibt es am Burgtheater regelmäßig Vorstellungen im Vestibül und die Amerikaner nennen ihre Bankfoyers oder SB-Zonen mitunter auch vestibule.

-ül-Worte haben etwas vornehmes an sich, außer natürlich vorne steht Geschirrsp- oder M- und hinten drann noch ein zweites l. Lassen wir das besser.

Vestibül klingt in meinen Ohren sehr schön und kommt vom Vestibulum, dem Vorhof. Dass es dann auch einen Vestibulum nasi, oris oder vaginae gibt, schwächt den Glanz des Wortes ein wenig ab, aber das Vestibulum labyrinthi macht es wieder gut. Labyrinth – bei dem Wort denkt man doch an Schlösser, große Parks, Hand in Hand spazieren gehen, Spannung, Geschicklichkeit. Positiv besetztes Wort, außer man verliert sich darin, im Labyrinth. Dann schwingt ein Horrorfilmgrauen mit und man verliert leicht die Orientierung, gar die Balance.

Um sie zu halten, braucht man den Vestibulärapparat. Menschen empfinden vestibuläre Reize ganz unterschiedlich. Der Gleichgewichtssinn ist jedoch ein sehr wichtiger, um uns zu erden und uns räumliche Orientierung zu ermöglichen. Mit zunehmendem Alter werde ich noch schneller schwindlig als früher. Schon ein Ringelreia-Tanz genügt. Als Kind wurde mir schlecht, wenn ich ein Ringelspiel nur von außen gesehen habe, sofern es sich um eines handelte, bei dem man mit dem Gesicht zum Drehpunkt schauend sitzt. *würg*

Damit sind wir auch schon bei der sensorischen Integration angelangt. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Sinneseindrücke, das auch für das eigene Körpergefühl entscheidend ist. Interozeption und Propriozeption –  die Wahrnehmung des eigenen Körpers (im Unterschied zur Wahrnehmung der Außenwelt). Die Propriozeption ist dabei die Wahrnehmung der eigenen Lage im Raum, auch in Hinsicht auf Bewegung und Muskelspannung. Tiefenwahrnehmung, Kinästhesie. Die Worte schwirren mir nur so um die Ohren, dass mir auch ohne Drehen und Tanzen ganz schwindlig wird. Kinästhesie enthält die Ästhetik, die genau genommen nur die Lehre der sinnlichen Wahrnehmung benennt – die Reduktion auf das Schöne, wie wir den Begriff im Alltag meist verstehen, kam erst später dazu.

Um auch noch Kant zu bemühen: Die transzendentale Ästhetik, die Theorie der (sinnlichen) Anschauung, war seiner Ansicht nach die Voraussetzung für das Denken (die Logik). Wir benötigen a priori schon Raum und Zeit als Prinzipien der Erkenntnis. Mit der Kinästhesie, der Wahrnehmung der Bewegung, die nicht immer als schön und angenehm empfunden werden muss, geschieht die Verortung der eigenen Person in Raum und Zeit.

„Sich selbst spüren“, „seine eigenen Grenzen“ wahrnehmen können, hilft uns durch den Tag zu kommen, im Alltag zu wissen, was wir uns zumuten können und was nicht, wann wir aufhören sollten, welche Reize wir brauchen und welche uns zu viel sind. Über- und Unterforderung vermeiden – das klingt nach einer kleinen abc-Übung und ist doch eher eine Sisyphosaufgabe. Wie es uns damit geht, werde ich gelegentlich berichten.