Viele kennen das Phänomen sicherlich: Man wacht nachts auf und die Gedanken fangen an sich so richtig festzubeißen. Was tagsüber nur ein kurzes Ärgernis war, bauscht sich in den Nacht- oder frühen Morgenstunden zur tödlichen Beleidigung oder dem unüberwindlichen Problemberg auf. Was tun in so einem Fall? Sich schlaflos hin und her wälzen, Meditationsübungen mache und eine Tasse Tee trinken oder doch lieber die Welt an der eigenen schlechten Laune teilhaben lassen? Wozu gibt es soziale Netzwerke?

Nehmen wir einmal an, ich hätte ein paar Millionen Follower, also noch nicht einmal 50 Millionen aber auch nicht sehr viel weniger, dann findet sich doch darunter garantiert der eine oder andere, der an meinen Tweets Anteil nimmt und meine Laune durch einen kleinen Likestorm aufhellt.

Und nehmen wir weiter an, ich wäre eine sehr bekannte und ziemlich mächtige Person, dann würde ich doch auf jeden Fall all meine Launen ungefiltert sofort in die Netzwerke hinausblasen, auf dass sie von der Presse noch weiter verbreitet würden. Wenn ich etwas sage, sollen es alle wissen. Ach was, wenn ich etwas denke, sollen es mir alle nachdenken und wenn mir eine Laus über die Leber läuft, dann schieße ich auf sie mit Bomben und Granaten – „because I’m President and you are not!„.

Aber nein, das ist alles viel zu dystopisch und völlig unrealistisch, weil Politiker selten etwas so sagen, dass man es auch eindeutig versteht. Diplomatie nannte man es früher, heute entspringt es mehr der Wendehalsigkeit und panischen Angst davor, Fehler zu machen, welche die eigene Popularität gefährden könnten.

Zurück in die Realität – ein kleiner Spaziergang täte jetzt gut:


Ein Nachmittag im Park. In der Sonne ist es angenehm warm. Manche Kinder laufen sogar ohne Jacke herum. Ich sitze auf der Bank und blättere lustlos in der Zeitung. Meine Augenlider werden schwer. Ich lasse das Lesen und beobachte schläfrig das Treiben rundherum. Zwei kleine Jungen spielen im Sandkasten. Der eine im linken Eck, mit dunklen Haaren, nennen wir ihn Tim. Der andere im rechten Eck, mit gelbblondem Haar, nennen wir ihn Ronald.

Kim spielt eine Zeit lang einsam in seiner Ecke. Dann plötzlich wirft er Sand hinüber zu dem anderen Jungen und schreit: „Ha, ich kann dich locker treffen!

Ronald dreht sich verdutzt um, bemerkt zwar sofort, dass der andere Junge nicht getroffen hat, aber er fühlt sich angegriffen. Immerhin hat Tim in seine Richtung gezielt. So etwas lässt er sich nicht gefallen. Er fängt an jede Menge Sandmatschkugeln zu formen und legt sie demonstrativ in einer Reihe auf. Die Drohung ist unmissverständlich.

Daraufhin springt Kim auf, schnappt sich seinen alten, halb kaputten Plastikbagger, füllt die Schaufel mit Sand an und stellt sich hinter Ronald. „Ich kann jederzeit den Knopf drücken!“ schreit er und hält den Bagger über Ronalds Kopf.

An dem Spielzeug funktioniert doch sicher nichts mehr, denke ich mir, aber behalte meine Meinung für mich. Die Fantasie der Kinder sollte man nicht unterschätzen und ihre Träume nicht sofort zerstören. Das macht dann schon noch das restliche Leben.

Der blonde Junge ist mittlerweile auch aufgesprungen und packt mit dunkelrotem Gesicht wütend seinen eigenen Bagger, ein elektrisch gesteuertes Modell aus glänzendem Metall mit all dem Schnickschnack, den sich Kinder wünschen. Seine hohe Stimme überschlägt sich fast als er mit dem schönen, großen, roten Bagger vor Tim herumfuchtelt und schreit: „Meiner ist viel größer und stärker und er funktioniert sogar!

Meine Zeitung fällt zu Boden. Bin ich kurz eingenickt?

Ich schaue zum Sandkasten, die beiden Jungen spielen schweigend jeder in seiner Ecke. Ich hebe mein Handy auf und will gehen, da sehe ich neben der Sandkiste auf beiden Seiten große Arsenale an Matschkugeln. In dem Moment wirft Ronald Tim einen kurzen, bösen Blick über die Schulter zu. Als würde Tim es spüren, dreht er sich um, sieht Ronalds funkelnde Augen und streckt ihm die Zunge heraus. Dann spielt jeder für sich weiter.

Ruhe vor dem Sturm? Höchste Zeit, dass ich nach Hause komme. Zum Glück werden Kinder irgendwann erwachsen und hören auf mit diesem kindischem Getue.