Karfreitag, ein düsterer Tag. In meiner Vorstellung scheint an diesem Tag immer die Sonne. Ein Frühlingstag als Vorbote für einen unendlich langen Sommer der Freiheit. Ich sitze im Klassenzimmer und lausche dem Vogelgezwitscher, das durch das geöffnete Fenster hereindringt. Alle rund um mich schreiben. Die Köpfe knapp über dem Heft. Die Lehrerin steht vorne, passt auf. Eigentlich schaut sie nur aus dem Fenster. Ich lehne mich zurück und schaue ebenfalls hinaus. Unsere Blicke wandern über die Dächer der Stadt zum Kirchturm. Das Kratzen von Füllfedern auf Papier. Kein Flüstern, kein Kichern, vor allem keine Glocken.

In der Karwoche waren immer schon Ferien, also ist die Erinnerung falsch. Mir ist sie trotzdem teuer. Aber davon wollte ich heute gar nicht erzählen, sondern von 10 Minuten Leben:


Der Heimweg ist minutiös geplant: U-Bahn, Zug, Kinder abholen. Jeden Tag dieselbe Hetzerei, auch wenn es sich ausgehen wird, muss, sollte. Aber was, wenn nicht? Also innerlich ein ständiges „Schneller, schneller!“ Äußerlich das Abprallenlassen der Umgebung an dem Modell funktionierende Mutter.

Heute gönne ich mir 10 Minuten.

Sie fehlen dann in meinem Stundensoll in der Arbeit, aber heute brauche ich das einfach. Ferienzeit, ein bisschen Luxus, Gelassenheit. Gehen lassen statt rennen müssen. Die U-Bahn fährt ein, kaum habe ich den Bahnsteig erreicht. Alles läuft nach Plan. Ich lächle vermutlich dämlich vor mich hin, aber das Leben hat auch schöne Seiten.

Gedanklich bin ich schon dabei, die Stiege im Bahnhof hochzusteigen, gemütlich, statt wie sonst gestresst, laufend. Danach werde ich mir den Sitzplatz aussuchen können im Zug, obwohl es Freitag Nachmittag ist und meine mitgebrachte Jause sogar noch vor der Abfahrt gegessen haben. Während der Fahrt habe ich dann Zeit, um zu lesen. Entspannt, im Text versinken. Für kurze Zeit.

Seit kurzer Zeit steht die U-Bahn jetzt schon in einer Station. Die kurze Zeit ist bereits länger als sie sein sollte. U-Bahnhalte sollten ruck-zuck gehen. Tür auf, Massen raus, Massen rein, weiterfahren. Wir sind aber immer noch zwischen Massen rein und Weiterfahren, die Türen stehen offen. Laufend steigen Menschen ein. Da kommt eine Durchsage. Endlich.

Schon das Knacken im Lautsprecher lässt die Mehrzahl der Fahrgäste laut seufzen. „Wegen einer betrieblichen Störung kommt es zu einem Aufenthalt.“ Aussagewert gleich Null. Breaking News, die nichts Neues mitteilen. Dass wir hier stehen, sehe ich auch so, und dass eine Verzögerung im öffentlichen Verkehr nicht aus Jux und Tollerei passiert, nehme ich grundsätzlich an. Touristen studieren unbeeindruckt ihre Stadtpläne, unter den Wienern kommt Unzufriedenheit auf. Der Wiener ist kein geduldiger Mensch. Der Pendler schon gar nicht.

Eine erneute Durchsage. Derselbe Inhalt wie eineinhalb Minuten zuvor. Ein älterer Mann fragt verzweifelt, was durchgesagt wurde. Ich könnte ihm antworten, aber dann würde er mich in ein Gespräch verwickeln, mir erzählen, was er noch alles vor hat, was er alles versäumen wird, weil er hier warten muss, wie unpünktlich die Züge immer sind. So etwas in der Art. Genau diese Gedanken habe ich gerade. Daher ist kein Platz für noch einen zweiten Grantler in meinen Gedanken. Wiener sind grantig, sogenannte Grantler. Es färbt ab. Ein junger Mann sagt dem Älteren, was durchgesagt wurde. Sie fangen an miteinander zu reden. Der Ältere erzählt, was er noch alles vor hat. Ich schweige und höre weg.

Nach der vierten identen Durchsage – nur im Tonfall war eine minimale Zunahme an Gleichgültigkeit zu erkennen – hat sich der Waggon bereits gut gefüllt. Jede Minute, die wir hier mit offenen Türen stehen, drängen weiter Fahrgäste herein. Anfangs noch erfreut, die U-Bahn „noch erwischt zu haben“, bald sich selbst bedauernd, diese U-Bahn erwischt zu haben. Viele benehmen sich nicht wie Gäste, aber die Wiener Linien sind auch nicht unbedingt ein guter Gastgeber. Man lässt Gäste nicht warten.

Unbeweglich und vor allem unbewegt warten zu müssen, das macht mürbe.  „Eingepfercht“  denke ich und beuge den Kopf nach hinten, um mir nicht die Atemluft mit der Frau vor mir teilen zu müssen. An der Tür auf der anderen Seite des Waggons beginnen zwei Frauen zu streiten. Schubserei, Beschimpfungen. Der Auftakt zum Platzkampf. Männer diskutieren Aufrückordnungen. Die Hackordnung ist bereits festgelegt: Wer stärker und lauter ist, kann mehr Platz für sich schaffen. Am unteren Ende der Hierarchie geht man auf Tuchfühlung, egal ob man sich riechen kann oder nicht.

Nach 10 Minuten brodelt es. Die Luft ist stickig, es ist eng, viel zu eng. Ich balanciere auf einem Bein. Ein Krampf im Arm lässt mich über die sadistischen Vorlieben von Haltegriffdesignern nachdenken. Ich schwitze und es ist noch nicht einmal Sommer.

Die U-Bahn setzt sich wieder in Bewegung. Bei jeder weiteren Station zeigt sich die Menschheit von ihrer egoistischen Seite. Gedränge, Bedrängnis, Vordrängelei. Jedes Ich will sich behaupten. Jedes Ich steht dem anderen im Weg. Jedes Ich ist der schlimmste Feind des fremden Du.

Am Bahnhof muss ich zum Zug laufen. Ich bekomme gerade noch einen Sitzplatz. Irgendeinen. Ich esse verschwitzt mein Brot. Vermutlich schaue ich finster drein, lächerlich finster. Das Leben kann so gemein sein.


Ich bin maßlos verärgert. Die Laune ist auf einem absoluten Tiefpunkt. Aber das Schlimmste ist, dass ich an nichts anderes denken kann, als an Stalltiere, die ihr ganzes Leben eingepfercht verbringen. Unbeweglich, unerträglich, unvorstellbar. Zur Bewegungsunfähigkeit verdammt, rundherum nur Metall, Mauern, Stress und Aggressionen. Das „Massentier“. Kein Entkommen vor den anderen und schon gar nicht vor dem eigenen, grausamen Schicksal. Für dieses Tier öffnet sich die Türe nicht nach einer halben Stunde.

Was muss das für ein erbärmliches Leben sein?