Tante Tex hat für ihren Story-Samstag zur Zeitreise in die Vergangenheit aufgerufen. Ich fühle mich eigentlich in der Epoche, in der ich lebe, recht wohl, zum einen, weil sie mir vertraut ist, zum anderen, weil manche Unannehmlichkeiten von früher längst überwunden sind. Im Büro ist es im Winter schön warm (im Sommer manchmal leider auch) und man weiß, dass man in der Kantine selbst dann etwas zu essen bekommt, wenn man den ganzen Vormittag nur (höchst produktiv) herum gesessen hat, statt sich um die eigene Nahrungsversorgung zu kümmen. Das ideale Zeitalter also, nicht wahr?


Donnerstag, 15. Februar 2017, 10:30 Uhr, „Alignment Project Meeting“ steht auf meinem Kalender. Es ist 10:27 Uhr. Ich schnappe mir den Laptop, einen Schreibblock (altmodisch, ich weiß, aber zum Kritzeln besser geeignet), Kuli und Smartphone und  marschiere Richtung Besprechungsraum. Wäre ich früher los gegangen, hätte ich noch einen Sitzplatz am Tisch ergattern können. Also, ab in die zweite Reihe, Laptop auf den Schoß – da gehört er ja offenbar sowieso hin – und erst einmal zuhören.

Nach einer quälend langsamen Viertelstunde sind die ersten organisatorischen Dinge geklärt. Mir wäre lieber, wir würden gleich in medias res gehen, aber Besprechungen mit vielen Leuten bedeuten meist auch viele unterschiedliche Anliegen irgendwie unter einen Hut zu bringen. Und das kann dauern.

taram …. taram … taramdamdam …fange ich an, mehr unbewußt als absichtlich, mit meinen Kugelschreiber auf dem Schreibblock einen Takt zu klopfen. Ungeduld ist meine Stärke.

taram … taram … taramdamdam …damdam … taram …

Ich ignoriere die genervten Blicke meines Sitznachbarn. Noch so eine Stärke von mir – Empathie. Ich nehme recht schnell wahr, wenn andere etwas stört. Ich fühle mich dadurch jedoch nicht unbedingt veranlasst, die Störquelle auszuschalten. Ärger registrieren und weitermachen, gelebte Passivempathie für Nicht-Philanthropen sozusagen.

Versunken in den Rhythmus meines Getrommels, die Augen auf das Karo meines Schreibblocks geheftet,  schweife ich irgendwann in Gedanken ab, blende die Rede des Vortragenden  kurz aus. Das Trommeln wird lauter und lauter. Was hat er gerade gesagt? Huga, huga? Ich schaue auf und staune nicht schlecht: Statt Anzug und Krawatte trägt er plötzlich nur noch ein Stück Fell um die Lenden gebunden. Der Oberkörper ist nackt, die Haare wild und zerzaust. Und irgendetwas stinkt gewaltig!

Mit einem Ruck sitze ich kerzengerade auf meinem Platz. Unter mir spüre ich einen kalten, harten Steinboden statt des gepolsterten Drehstuhls. Was zum Kuckuck ist hier los?!

Die rhythmischen Trommelschläge scheinen immer näher zu kommen. Der Nachbarstamm hat ein Mammut erlegt und bringt die fette Beute unter großen Tamtam zu unserer Höhle. Ein Friedensangebot!

Fleisch als Zeichen des Friedens“ denke ich verärgert. „Das kann nur Männern einfallen. Gemüse wäre ein passendes Friedensangebot. Oder Obst. Auf jeden Fall etwas, wofür niemand erschlagen wurde …

Ich höre unseren Stammeshäuptling weiter grunzen: „Huga huga. Harr huga uuuuga!“ schreit er und alle klatschen ungelenk, aber hoch erfreut in die Hände. Ziemlich behaarte Hände wie ich feststelle. Aber es ist auch wirklich kalt hier. Ein Windstoß lässt mich frösteln. Keine der Frauen trägt übrigens einen BH. Sie tragen gar nichts oben rum! Entsetzt schaue ich an mir herab. Immerhin ist mein Röckchen aus Pflanzenblättern geflochten, kratzig und sehr luftdurchlässig wie ich feststellen muss, aber immerhin: Konsequent vegan.

Die allgemeine Begeisterung weicht bald einem aufgebrachten, schrillen Kreischen. Die Aufteilung des Mammuts verläuft alles andere als friedlich. Die Häuptlinge raufen um die Schenkel und ein paar jüngere Burschen unseres Stammes versuchen den Nachbarn die Rippen abspenstig zu machen. „Huga hurga haga!“ höre ich mich selbst aufgeregt rufen und mit einem *Plopp* bin ich aus der Steinzeit wieder zurück in der Gegenwart.

30 Augenpaare starren mich an. Ein paar Kollegen lächeln seltsam, andere schauen nur skeptisch, manche mit offenem Mund. Ich räuspere mich kurz, drehe den Kopf in alle Richtungen, um sicher zu gehen, dass ich nicht mehr halbnackt in einer stinkenden, feucht-kalten Höhle sitze.

Wollten Sie etwas sagen, Frau Kollegin?“ fragt der Abteilungsleiter, der noch immer ganz vorne steht, einen Laserpointer in der Hand und den Anzug am Körper. Ich spüre wie mir heiß wird. Bin ich vielleicht eingenickt und habe die Sache mit dem Mammut nur geträumt? Manchmal rede ich ja im Schlaf, und so wie alle anderen gerade dreinblicken und mich dabei im Fokus haben, könnten sie meine „Hugas“ gehört haben! Ich schüttle nur stumm den erröteten Kopf. Langsam wenden sich alle wieder dem Redner zu und vor allem den Brötchen und dampfenden Kaffeetassen, die gerade herein gebracht wurden.

Beuteaufteilung“ denke ich und rechne nach, ob ich vielleicht zu wenig Schlaf bekommen haben könnte. Schlafentzug führt ja angeblich zu Halluzinationen. Da bemerke ich, dass ich statt meines Kulis einen kleinen Knochen in der Hand halte. „Was zum Kuckuck….?!“ rufe ich laut und spüre sogleich wieder die Augen der anderen auf mir.

Das glaubt mir keiner“ murmle ich nur verärgert über meine Unbeherrschtheit, beiße mir auf die Lippen und stecke den Knochen rasch in die Tasche meines Blazers.


Für den völlig unwahrscheinlichen Fall, dass jemand aus meiner Arbeit hier mitlesen würde: Dass die Geschichte nicht zu 100% der Realität entspricht, ist leicht daran zu erkennen, dass es bei uns ja schon lange keine Brötchen und Kaffee mehr zu den Besprechungen gibt. Die sind alle dem Sparstift zum Opfer gefallen, mit welchem wir uns dankenswerter Weise eine Verpflegung im Besprechungszimmer immerhin noch aufzeichnen könnten. Dass ich also nicht zu 100% gedanklich beim Vortrag war, ist selbstverständlich rein fiktiv, alles andere wurde fast wahrheitsgetreu geschildert.