Das neue Thema bei Tante Tex‘ Story Samstag lautet diesmal:

Mein Klon und ich

… gingen spazieren. Es war ein großer Tag, trüb, kalt und regnerisch. Und doch war es der größte Tag überhaupt, der alle anderen bisherigen überstrahlen sollte.

Stolz marschierten wir durch die Straßen, die unpassender Weise fast menschenleer waren. Niemand ging bei so ungemütlichem Wetter freiwillig vor die Türe. Jene, die trotzdem hinaus mussten, eilten mit aufgestellten Krägen, eingezogenen Köpfen und tief gehaltenen Regenschirmen schweigend durch das Grau dieses Novembertages und verdüsterten es noch mit ihren finsteren Mienen.

Wir aber marschierten eingehängt wie ein frisch verliebtes Pärchen vom Institut Richtung Innenstadt als machten wir einen Frühlingsspaziergang. In angemessenem Abstand folgten uns der Institutsleiter, ein paar Doktoranden, ein Wissenschaftsjournalist und ein Tonassistent des regionalen Fernsehsenders mit  einem Mikrofon, das knapp über unseren Köpfen an der sogenannten Tonangel baumelte und alle unsere Worte einfangen sollte. Ein paar Meter vor uns ging ein Kameramann, der sich rückwärts fortbewegend mühte, unseren ersten gemeinsamen Spaziergang für die Nachwelt festzuhalten. Gelegentlich stieß der Unglückselige dabei gegen Laternenmasten, Parkuhren oder stolperte über eine Gehsteigkante. Wir konnten unser Kichern kaum unterdrücken. An diesem Tag war einfach alles großartig, nichts konnte unsere Euphorie stoppen.

Die wenigen Passanten, die uns entgegenkamen, wichen – aufgeschreckt aus ihren alltäglichen Gedankengängen – staunend unserem Tross aus. Sie traten zur Seite, blieben am Gehsteigrand oder an ein Schaufenster gepresst stehen und hoben den Schirm, um uneingeschränkte Blicke auf uns werfen zu können. Waren wir an ihnen vorbeigezogen, blieben sie meist noch ein Weilchen und sahen uns fast ungläubig nach. Schließlich setzten sie kopfschüttelnd ihren Weg fort. Ob sie überhaupt erahnen konnten, dass sie gerade Zeuge eines historisch wichtigen Ereignisses geworden waren? Ach, diese unschuldigen, ihr unbedeutendes, langweiliges Dasein fristenden Normalsterblichen!

„Ein menschlicher Klon! Es ist uns endlich gelungen, einen lebensfähigen menschlichen Klon zu schaffen! Wenn die Welt erfährt, dass wir hier im beschaulichen Bad Wilmuttern …“

Der Institutsleiter verkündete die wissenschaftliche Sensation und sprach mit hörbarem Stolz und weit aufgerissenen Augen in die Kamera, um der Wichtigkeit seiner Aussage noch mehr Ausdruck zu verleihen.

Der Journalist hatte vorgeschlagen, eine Pause auf der Bank neben dem Brunnen vor dem Rathaus einzulegen, um ein paar Interviews aufzunehmen.

Mein Klon und ich saßen auf dem nassen Holzbrett, an dessen Rückenlehne eine kleine goldfarbene Plakette verkündete, dass diese Sitzgelegenheit der heimischen Bank zu verdanken war. Neben uns plätscherte das Wasser im Brunnen als hätte es nicht ausgereicht, dass das beständige Nieseln gelegentlich in stärkeren Regen überging. Während der Institutsleiter dem Journalisten Rede und Antwort stand und wir endlich unbelauscht sprechen konnten, beobachteten wir die vorübereilenden Passanten und versuchten uns auszumalen, welches Leben diese Menschen führten:

„Hausfrau beim Einkaufen“ – „Mhm“

„Handwerker, der sich jetzt gleich eine Jause im Supermarkt kauft…“ – „Und Zigaretten, da vorne, wetten?“

„Pensionistin, die sich nach sozialem Kontakt sehnt und entweder gleich beim Arzt hinein geht oder noch ein paar Meter weiter zur Bank, um sich – je nachdem – bedauern oder beraten zu lassen, obwohl ihr eigentlich gar nichts fehlt und sie ganz sicher keinen Bausparvertrag mehr abschließen sollte.“ – „Ach, so etwas sagt man doch nicht! Du und dein böser Humor!“ – „Ich? Na, du bist aber auch nicht besser!“

Wir lachten beide laut auf. Eine Frau, mit einem kleinen Jungen an der Hand, die gerade an uns vorbeiging, schaute uns strafend an. Als ihr Kind plötzlich aufschrie und dann rief: „Mama, was ist denn mit dem …“ zog sie es rasch mit sich fort.

Die Kamera und das Mikrofon erregten Aufmerksamkeit hier am Hauptplatz. Immer, wenn uns jemand bemerkte, wichen er oder sie rasch aus und machten einen großen Bogen um uns, nicht ohne uns aus den Augen zu lassen.

„So fühlt sich also Berühmtsein an“

dachte ich bei mir voller Freude über die Erfüllung eines langersehnten Traumes.

„Höflich ist das ja nicht, wie die glotzen“

sagte mein Klon doch etwas genervt von dem ganzen Tamtam und dem feucht-kalten Wetter.

„Schau sie einfach so lange an, bis sie wegschauen. Ich finde das eigentlich ganz lustig. Es ist ein Spiel: Wer hält länger durch?“

antwortete ich tröstend und um Aufmunterung bemüht.

Dieser Tag gehörte nur uns. Den sollte, nein, den durfte uns niemand verderben. Ich betrachtete meinen Sitznachbarn einige Zeit schweigend. Dann flüsterte ich:

„Und vielleicht gelingt es uns beim nächsten Versuch ja, dass auch wirklich alles an exakt der richtigen Stelle ist, alle DNA-Sequenzen wirklich zu hundert Komma null Prozent identisch sind, statt nur zu neunundneunzig Komma neun, neun, neun…“

Zuversichtlich zwinkerte ich dem Auge am Hinterkopf meines ersten geklonten Ichs zu. Ich war mir sicher Klon Nummer 2 würde perfekt werden.